Die Äußeren Wege, Kapitel 1‐3

HomeSwitcherDieAusserenWege„Rasmus und die Gilde der Propheten“ ist eine vierbändige High‐Fantasy‐Serie. Der erste Band, „Die Äußeren Wege“, ist als Taschenbuch bei Amazon sowie als E-Book bei Kindle erhältlich.

Anbei finden sich die ersten drei Kapitel des Romans als Leseprobe.

 

 

 

 

 


Rasmus

463 n.Z., zweiter Tag des Langmondes

„Eine gute Geschichte beginnt immer mit einem Mord!“, rief Flemming. „Nun sag schon! Wer wird als erstes sterben?“

Der Schankraum des Zerbrochenen Krugs war brechend voll und Rasmus rollte entnervt mit den Augen, während Flemming ihn erwartungsvoll ansah. „Ich schreibe Gedichte, Flem!“, erklärte Rasmus zum wiederholten Male und griff nach seinem Weinbecher. „Morde haben meiner Erfahrung nach nicht allzu viel mit Poesie …“

„Mein Lieber, da irrst Du! Und zwar gewaltig!“, unterbrach Flemming seinen Freund. Er wies auf die Bühne, auf der zwei schwarzgewandete Männer und eine Frau in einem weißen Kleid mit Laute, Fiedel und Schellentrommel ein rhythmisches Trinklied intonierten. „Siehst Du diese Drei da oben?“

„Die sind schwer zu übersehen, Flem. Und noch schwerer zu überhören.“

„Der mit der Laute ist Defou. Er geht zusammen mit mir in die Lehre. Hast Du ihn jemals von Akiavas Fall singen hören?“

„Aki… wer?“

„Rasmus! Prinzessin Akiava, Stern von Annstein, Perle des Südens! Weil die Yvernier sie ermordet haben, ist der siebenjährige Krieg überhaupt erst ausgebrochen!“

Rasmus hatte sich noch nie für Kriege interessiert und gähnte demonstrativ. „Das ist doch Ewigkeiten her, Flem!“

„Von wegen! Ich sage Dir, wenn Defou von ihr singt, siehst Du sie vor Deinem inneren Auge von den Zinnen stürzen. Du weinst wie ein Schlosshund und würdest am liebsten hinterher springen. Und Du sagst nie mehr, dass Morde nichts mit Poesie zu tun haben!“

Rasmus seufzte. Flemming musste immer das letzte Wort haben. „In Ordnung, Flem“, sagte er versöhnlich. „Aber jetzt sage ich einfach nur Prost!“ Er hob seinen Becher. „Auf die Poesie! Und auf unsere Freundschaft!“ Beinahe hätte er „Liebe“ gesagt.

Sein Gegenüber erwiderte den Trinkspruch. Die beiden nahmen einen tiefen Zug von dem roten Heuholzer, der an den weiten Hängen um Annstein herum geerntet wurde und dem die Zecher im Zerbrochenen Krug zu dieser Stunde reichlich zusprachen.

„Ah! Was braucht ein Mann mehr als einen Becher Wein?“, fragte Flemming glückselig. Der angehende Barde hatte sein Haar wachsen lassen, graue Strähnen hinein gefärbt und sich einen kunstvollen Kriegerzopf geflochten. Mit seinem samtgrünen Umhang gab Rasmus‘ Freund ein imposantes Bild ab. Groß gewachsen, den Bart akkurat gestutzt, mit markanten Wangenknochen und braunen Augen, aus denen ständig der Schalk blitzte und in denen sich schon so manche Frau verloren hatte. Und so mancher Mann, fügte Rasmus in Gedanken hinzu und gestattete sich einen lautlosen Seufzer.

„Jetzt erzähl schon. Wie kommst Du voran, mein Kleiner?“ Flemming beugte sich gönnerhaft zu dem einen Kopf kleineren Rasmus hinüber. Die Nähe seines Freundes ließ Rasmus‘ Herz noch immer schneller schlagen. Hätte er doch nur ein wenig von Flemmings blendendem Äußeren abbekommen. Seine borstigen braunen Haare nahmen nie irgendeine erkennbare Frisur an. Seine Nase war klein, sein Mund dünn und schmal, seine Augen von einem wässrigen Blassblau. Bei den Göttern, er konnte sich noch nicht einmal einen anständigen Bart wachsen lassen. Seine spärlichen Barthaare sprossen in einem halben Dutzend Farben und das auch noch mit völlig unterschiedlicher Geschwindigkeit. Schon seit Jahren rasierte er das kümmerliche Ergebnis alle paar Tage aus seinem unscheinbaren Gesicht.

Rasmus zuckte betont gleichgültig mit den Achseln. „Frag lieber nicht“, antwortete er halblaut, um gegen den Lärm des Schankraums anzukämpfen. „Nur noch vier verdammte Wochen! Mein Pergament ist jungfräulich wie eine Vernische Priesterin!“

In vier Wochen war der erste Tag des Brachmondes und an dessen Abend würde endlich das langersehnte Brachfest stattfinden. Annstein, landauf und landab auch als Stadt der Künste bekannt, würde von Besuchern aus nah und fern geradezu überrannt werden. Die feiernden Menschen würden zunächst den Göttern opfern, bevor sie sich dem bunten Treiben in den Straßen anschließen würden. Brachbier und Heuholzer würden in Strömen fließen, während Artisten, Schausteller, Dichter, Sänger und Musiker in zahlreichen Wettbewerben den Besten ihrer Zunft küren würden. Eine feierliche Prozession würde das Brachfeuer nach Annstein bringen, und nach einem großen Feuerwerk würden die Menschen ihre Strohpuppen in den Flammen der Scheiterhaufen verbrennen und im fiebrigen Taumel des Annsteiner Straßenkarnevals versinken, der bis in die Morgenstunden andauern würde. Eine Unzahl Kinder würde gezeugt werden, und die Beutelschneider von nah und fern würden sich die Hände reiben. Rasmus’ großes Ziel war der Dichterwettstreit am Heumarkt. Er wusste aus sicherer Quelle, dass der Sieger in die Gilde der Dichter aufgenommen werden würde, und zwar nicht als Lehrling, sondern als vollwertiges Mitglied. Herzöge oder Grafen würden sich darum reißen, ihn an ihre Höfe berufen zu dürfen. Es war eine einmalige Chance, die so schnell nicht wiederkommen würde. Vielleicht nie mehr.

„Mein Guter, da machst Du irgendwas falsch. Poesie darf niemals jungfräulich sein!“, dozierte Flemming. Mit einer weit ausholenden Geste deutete er auf die Theke und rempelte versehentlich ein Schankmädchen an. Ein Krug fiel zu Boden und dampfende Flüssigkeit ergoss sich auf den Glatzkopf am Nebentisch.

„Ah! Verdammt! Mein Tee!“

Flemming hatte sein Missgeschick noch nicht einmal bemerkt und redete eifrig auf Rasmus ein. „Schau Dir diesen wundervollen Schankraum an. So viele Menschen. So viel Leben! An jedem Abend entfalten sich hier hunderte von Geschichten. Kannst Du die nicht sehen?“

Ich fürchte schon. Und die erste Deiner Geschichten entfaltet sich gerade am Nebentisch, Flem. Der tropfende Glatzkopf erhob sich, trat zu Flemming und ergriff das Wort. „Könnt Ihr nicht aufpassen? Ich habe mir die Füße wundgelaufen, um einen Schankraum zu finden, der in der Lage ist, Wasser aufzukochen. Ich habe dem Wirt von meinem kostbaren Salbei gegeben. Seit Stunden freue ich mich auf meinen Tee …“

„… und statt Tee habt Ihr nun Kunst produziert. Ich gratuliere Euch, mein Freund!“ Flemming stand auf und begann, lauthals zu applaudieren. Rasmus und das Schankmädchen starrten den Barden entgeistert an.

„Was, bei den sieben Höllen, …“ begann der Glatzkopf.

„Der Krug bricht im Zerbrochenen Krug!“, rief Flemming und hob zwei Scherben auf. „Eine Metapher. Ein Bild im Bild. Ihr seid ein Poet, mein Freund. Willkommen in Annstein! Willkommen in der Stadt der Künste!“

Der Andere betrachtete den Barden abwägend und schüttelte endlich den Kopf. Das Schankmädchen hatte die Gelegenheit genutzt und sich aus dem Staub gemacht. „Ein Bild im Bild? Selten so eine Scheiße gehört. Seid froh, dass ich keine Scherereien wünsche, Barde. Das seid Ihr doch, nicht wahr?“

Flemming nickte eifrig, klopfte dem Glatzkopf auf die Schulter und bot großherzig seinen Heuholzer an. Dieser winkte ab und wandte sich zum Gehen. „Ich trinke nicht. Und heute schon gar nicht. Lasst es gut sein, Barde. Ich habe zu tun.“

Rasmus atmete erleichtert auf. Sein Freund war großartig darin, sich und andere in Schwierigkeiten zu bringen, vor allem, wenn er zu viel getrunken hatte – und das letzte, was Rasmus gebrauchen konnte, waren weitere Schwierigkeiten. Seit die Gilde der Dichter sein Ersuchen um eine Lehrstelle abgelehnt hatte, waren vier Monde vergangen, und der vorab erhaltene Erbteil, den sein Vater bei der Annsteiner Stadtbank hinterlegt hatte, war beträchtlich zur Neige gegangen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, einen Rauswurf vom elterlichen Hof zu provozieren, um in der Stadt der Künste eine ruhmreiche Karriere als Dichter anzustreben.

Der Duft von Hammelpastete und Röstbrot mischte sich mit dem sauren Geruch des Weines, dem beißenden Rauch des Kamins und den Ausdünstungen der Zecher. Rasmus verpasste Flemming einen freundschaftlichen Knuff. „Der Krug bricht im Zerbrochenen Krug? Du bist der größte Schwätzer in den ganzen Mittlanden, Flem. Und leider wird es so langsam Zeit“, fügte er bedauernd hinzu. „Meine Nachtschicht beginnt gleich. Zur zweiten Wache!“

Der Barde versuchte, ihn zu einem letzten Becher zu überreden. Rasmus, der seine Schicht pünktlich antreten wollte, widerstand dem verlockenden Angebot und verließ Flemming mit einer kurzen Umarmung, die sein Herz noch immer höher schlagen ließ, obwohl er sehr genau wusste, wie sinnlos das war. Flemming hat mehr als deutlich gemacht, dass er nichts für dich empfindet, du Idiot. Zumindest nicht auf diese Weise. Rasmus mühte sich durch den noch immer gut gefüllten Schankraum, drückte dem schwitzenden Wirt einige Kupferpfennige in die Hand und trat in die Nacht hinaus. Es war dunkel geworden. Wolken verdeckten die Sterne und es war warm und windstill. Ein durchdringender Geruch von Urin und Unrat lag in der Luft. Rasmus rümpfte die Nase, ging einige Schritte in die Dunkelheit und schlug sein Wasser an einer bröckeligen Hauswand ab.

Eine Glocke schlug dreimal. Nur noch eine Viertelstunde bis zum Beginn seiner Schicht. Rasmus begab sich schnellen Schrittes zum Haus der Ruhe, wo er vor zwei Monden endlich eine Arbeit gefunden hatte. Zwar hasste er das Gestöhne und den Gestank der Kranken und Sterbenden, aber er konnte froh sein, dass er überhaupt irgendwo untergekommen war, als sein Geld schließlich knapp wurde. Wie so oft ging die Drei-Tage-Ruhr in Annstein herum, und einzig und allein die Tatsache, dass Rasmus im Kindesalter eine schwere Ruhrerkrankung überlebt hatte, qualifizierte ihn für seinen neuen Beruf. Hätte er nur nicht diese gottverdammte Aufnahmeprüfung an der Gilde der Dichter vergeigt. Seitdem hatte er jegliches Vertrauen in seine Fähigkeiten verloren, starrte Stunde um Stunde auf leeres Pergament und all seine Versuche, ein paar geistreiche Zeilen zu Papier zu bringen, endeten darin, dass er sich frustriert betrank. Wie eine Fackel, die nicht mehr brennt, dachte er voller Selbstmitleid. Er hatte die Neustadt hinter sich gelassen und steuerte auf die Zwillingsbrücke zu, die die Ann im Schatten der Zwillingstürme in zwei mächtigen steinernen Bögen überspannte. Wie eine leere Hülle. Ich presse mich aus wie eine Zitrone, aber kein Wort tropft über meine Lippen.

Rasmus überquerte die Ann schnellen Schrittes und drängte sich zwischen verliebten Pärchen und zahlreichen Verkäufern hindurch, die an dem warmen Sommerabend allerlei Getränke, Nahrungsmittel oder Handelswaren feilboten. Die Zwillingsbrücke war mit Öllampen ausgeleuchtet und trotz der späten Stunde war noch allerhand Volk unterwegs. Am Ende der Brücke hatte sich eine Menschenmenge versammelt und lauschte den Worten eines Wahrpredigers. Der kurzgeschorene Alte hatte sich wagemutig auf die breite Brüstung gestellt und trug ein Gewand, das halb aus schwarzem und halb aus weißem Stoff genäht war. Seine tiefe Stimme war weithin zu hören.

„… ernst nehmen und auf die Zeichen achten!“, tönte der Mann, während Rasmus sich mehr schlecht als recht bemühte, an der Menschenmenge vorbei zu drängen. „Wir haben Bergans guten Weg verlassen und jetzt fordern die Götter ihren Tribut! Höret Bergans Worte! Höret die Worte des Gründers!“ Der Wahrprediger machte eine kunstvolle Pause und begann, zu deklamieren.

„Ein Schatten wirft Schatten. Ein Stundenglas bricht …“

Rasmus hörte nur mit halbem Ohr zu. Entschuldigungen murmelnd, arbeitete er sich mit gesenktem Kopf durch die andächtig lauschende Menge.

„Ein Verräter verraten, eine Schlafende spricht …“

Ein grandioser Reim. Das hätte ich besser gekonnt. Vielleicht hätte er den Beruf des Wahrpredigers anstreben sollen. Das schwarzweiße Gewand des Mannes sah geheimnisvoll aus und die Gilde der Propheten war angesehen und mächtig, denn ein Wahrprediger konnte mit beängstigender Präzision die Zukunft vorhersagen. Herzöge und Könige hielten sich Wahrprediger an ihren Höfen, und die richtige Vorhersage zur richtigen Zeit konnte einen Krieg gewinnen oder verlieren.

„Ein Himmel so rot, in der Brachfeuer Nacht …“

Das Problem war, dass die Gilde der Propheten äußerst wählerisch bei der Auswahl ihrer Mitglieder war. Es gab keine Aufnahmeprüfung, um Wahrprediger zu werden, denn die Gilde rekrutierte ihre Mitglieder selbst. Niemand wusste, nach welchen Kriterien.

„Die Sterne, sie weichen, wenn die Sonne erwacht …“

Jemand stieß gegen seine Schulter. Rasmus verlor das Gleichgewicht, geriet ins Taumeln und hätte beinahe einen fetten Mann mit einem Dreitagebart, der ebenso wie der Wahrprediger in Schwarzweiß gekleidet war und mit einem Armvoll Traktaten wedelte, zu Boden gerissen. Die Papiere fielen in den Staub, und der Andere unterdrückte einen Fluch.

„Die Welt schließt die Augen, wenn er sich erhebt … des Wahrbringers Erbe, der Alte Prophet!“, predigte der Alte mit feierlicher Stimme und schaute für einen langen Moment zum nächtlichen Himmel auf. Die Menschenmenge war in andächtige Stille versunken. Nur der Fettwanst, der auf allen Vieren im Straßenstaub kniete, murmelte etwas vor sich hin, während er seine Traktate einsammelte und Rasmus den Weg versperrte.

„Achtet auf die Zeichen und habt Geduld!“, hob der Wahrprediger wieder an, der mit ausgebreitetenen Armen über der Menge emporragte und seinen Auftritt unübersehbar genoss. „Und nun stimmt alle mit mir in den Lobgesang des Wahrbringers ein!“

Götter, das hatte noch gefehlt. Ein Lobpreis. Hoffentlich forderte ihn niemand zum Mitsingen auf. Die ersten Gläubigen erhoben bereits ihre Stimmen.

 

Wahrer Seher, komm und schaue

Unser Elend gnädig an

Auf Dich hoffet, auf Dich bauet

Jede Seele, jeder Mann

 

Der Fettwanst kam schweißgebadet auf die Füße. „Das war nicht nett, mein Kleiner!“ Der Mann streckte eine unförmige Hand aus und hielt ihm ein schmutziges Papier hin. „Seid Ihr des Lesens mächtig?“

„Nein“, log Rasmus. Als er elf Jahre alt war und der Siebenjährige Krieg mit der Enthauptung von König Hrogar geendet hatte, war es eine der ersten Amtshandlungen der frisch gegründeten Republik von Ann gewesen, die allgemeine Schulpflicht einzuführen. Rasmus hatte in der frisch gegründeten Dorfschule von Seldenbrück nicht nur Lesen und Schreiben gelernt, sondern auch seine Liebe zur Dichtkunst entdeckt, aber das musste er nicht jedem dahergelaufenen Fettwanst auf die Nase binden.

 

Unser Sehnen, unser Streben

Gilt dem Wort aus Deinem Mund

Komm, erleuchte unser Leben

Tu uns Deine Weisheit kund

 

Sein Gegenüber verzog bedauernd das Gesicht, während die Menschen andächtig sangen. „Ein Jammer. Niemand zeigt Interesse an den Thesen von Meister Iestoban!“ Er deutete auf den aus voller Kehle mitsingenden Prediger. „Wollt Ihr nicht trotzdem ein Exemplar mitnehmen? Es würde den Meister glücklich machen, wenn die einfachen Bürger seine Arbeit kennenlernen!“

„Und es würde es mich glücklich machen, pünktlich zu meiner Arbeit zu gelangen. Bitte entschuldigt mich!“ Er zwängte sich an dem aufdringlichen Fettwanst vorbei und schlüpfte durch das halbe Dutzend inbrünstig singender Fischer. Endlich öffnete sich die rettende Dunkelheit der Straßen von Alt-Annstein vor ihm.

 

Und wir legen unser Land

In des Wahrbringers Hand

 

Der Weg war frei. Aufatmend ließ Rasmus Prediger und Gläubige hinter sich. Das Haus der Ruhe war nicht mehr weit entfernt, und wenn er sich beeilte, würde er sich nur ein klein wenig verspäten. Zusammen mit Grubb hatte er in dieser Woche die Nachtschichten übernommen. Grubb und Rasmus waren die einzigen männlichen Ruhehelfer, die der Orden beschäftigte, und alleine die Götter wussten, wie ein ungeschlachter Einfaltspinsel wie Grubb an diese Arbeit gekommen sein mochte. Grubb war von einfachem Gemüt. Breit, kräftig und bis auf ein paar spärliche Büschel haarlos, hatte er ein teigiges Gesicht ohne jeden Ausdruck, konnte einen Toten über jeder Schulter tragen und einen Schüttelkranken besser festbinden als jeder andere. Nach Rasmus’ Ansicht gehörte er in ein Arbeitslager oder auf ein Schlachtfeld, aber auf keinen Fall in ein Ruhehaus. Rasmus musste diesen verdammten Dichterwettstreit gewinnen. Mit einem Mal wäre er seine finanziellen Sorgen los und von heute auf morgen ein angesehener Gast in den Tavernen und Bordellen von Annstein. Sicherlich gäbe es dort attraktive Männer, die ähnliche Vorlieben hatten wie er. Ein fester Platz. Eine feste Beziehung. Keine Puppenjungen mehr bezahlen. Und nie mehr Grubbs ausdrucksloses Gesicht sehen.

Entschlossen betrat Rasmus das Haus der Ruhe – einen heruntergekommenen, alten Bau mit weißgetünchten Wänden und einer bronzenen Schlange über dem Eingang. Die Schlange war das Symbol des Donaster, der seinerseits die zuständige Gottheit für Heilung und Ruhe war. Rasmus glaubte nicht so richtig an die vielgestaltige Annsteiner Götterwelt, die für jedwede Lebenssituation einen ganz persönlichen Gott bereithielt. Andererseits – wenn der Glaube an die Götter ihm eine Arbeitsstelle verschaffte, war er gerne bereit, den braunen Kittel mit der stilisierten Schlange überzustreifen und so zu tun, als sei er Donasters Mann. Und ich bin wirklich gut darin, so zu tun, als ob. Beispielsweise tue ich seit Jahren so, als wäre ich ein Dichter.

Die Geistlichen des Donaster hatten in sämtlichen Städten der Mittlande Ruhehäuser gemietet oder erbaut. Nicht ganz selbstlos – man munkelte, dass nicht nur die Patienten einen üppigen Betrag für ihren Aufenthalt entrichten mussten, sondern dass auch die jeweilige Stadt dem Orden eine erkleckliche Menge an Dukaten für den Betrieb des Ruhehauses zukommen ließ. Ein einfacher Ruhehelfer sah davon gerade mal zehn Silbergroschen in einem Mond, was dem Gehalt eines einfachen Tagelöhners entsprach.

Im Flur des Ruhehauses brannten zwei Öllampen und Rasmus wurde von dem Stöhnen der Ruhrkranken aus dem fensterlosen Raum am Anfang des Flures begrüßt, den die Ruhehelfer „Brauner Salon“ nannten. Es stank bestialisch. Grubb war nirgends zu sehen, und Rasmus fluchte. Ein an der Drei-Tage-Ruhr erkrankter Patient entwickelte einen bemerkenswerten Durst, wenn ihm nicht gerade das Leben zwischen den Beinen herunter rann, und der Wasserbottich, den die Ruhehelfer der Einfachheit halber direkt in den Flur gestellt hatten, war so gut wie leer. Der Abend beginnt genauso, wie ich mir das vorgestellt habe. „Grubb!“, brüllte Rasmus. „Wo steckst Du hirnloser Ochse schon wieder!?“ Aus dem Zimmer der Wunden erklang das Wimmern einer Frau, aber Rasmus schenkte ihr keine Beachtung. Er legte seine Arbeitskleidung an, setzte Weidenrindentee auf und verbrachte die ersten Stunden seines Dienstes damit, Wasser aus dem Brunnen vor dem Ruhehaus zu schöpfen und an die jammernden Menschen zu verteilen. Auf das Säubern der Kranken, die in braunroten Lachen ihrer eigenen Exkremente lagerten, verzichtete Rasmus dankend – das war die richtige Aufgabe für Grubb. Natürlich nur, falls der Trottel in dieser Nachtschicht noch einmal auftauchen würde.

Murrend verließ Rasmus den Braunen Salon, wusch sich Arme und Beine mit Brunnenwasser und betrat im Anschluss den Vorratsraum, um Zutaten für seinen Weidenrindentee zu suchen. Na da schau her. Er fand Grubb sitzend auf dem Boden, den Kopf in den Nacken gelegt, mit offenem Mund schlafend. Ein dünner Speichelfaden rann von seinem Kinn herab und tropfte auf sein fleckiges Lederwams. Vielen Dank für Deine Hilfe, dachte Rasmus verärgert und weckte Grubb mit einem beherzten Tritt. Der schwere Mann grunzte. Rasmus schüttelte ihn unsanft und rief: „Aufstehen! Die Arbeit ruft! Der Braune Salon verlangt nach Deiner Anwesenheit!“

Grubb grunzte erneut, schlug die Augen auf und starrte schweigend in die Dunkelheit. Rasmus gab Anweisungen, während er sich erneut dem Regal mit den Kräutern widmete. „Ich habe Wasser aufgefüllt und verteilt! Mit Waschen bist Du heute dran. Keine Überschwemmungen und keinen Streit. Lass uns die Nacht anständig zu Ende bringen, in Ordnung?“

Der Andere stemmte sich hoch und schlurfte wortlos in den Flur. Rasmus massierte sich die Schläfen, reicherte den Weidenrindentee mit Mädesüß, Lindenblüten und einem Löffel Honig an, nahm einen Tiegel mit Wundsalbe sowie einen kleinen Stapel Verbände, verstaute alles in den Taschen seines Umhangs und betrat derart ausgerüstet den Raum der Wunden. Die Alte, die ihm mittlerweile mindestens ein Dutzend Mal erzählt hatte, wie sie sich beim Zubereiten irgendeines Gerichtes die halbe Hand abgehackt hatte, begann zu jammern, kaum dass er den Raum betreten hatte. Rasmus schenkte Weidenrindentee aus und löste den Verband. Die Wunden eiterten nicht und waren bereits am Verheilen. Ganz ohne Zweifel hatten die Diener des Donaster hier gute Arbeit geleistet, und dennoch zischte die Frau durch zusammengebissene Zähne, als Rasmus das, was von ihren Fingern noch übrig war, mit der grünlichen Wundsalbe bestrich. Er fixierte die Stümpfe, legte einen neuen Verband auf und klopfte der Frau tröstend auf die Schulter. „Das Schlimmste ist überstanden, edle Dame. Sicherlich steht Ihr bald wieder in Eurer Küche und kocht für Euren Hohen Herrn!“ Dieser hatte augenscheinlich eine hohe Meinung von ihrer Kochkunst, ansonsten hätte er niemals den Aufenthalt im Haus der Ruhe finanziert.

„Ich kann sie noch immer spüren“, flüsterte die Köchin. „Jeden einzelnen von ihnen.“

„Der Tee wird Eure Schmerzen lindern“, tröstete Rasmus sie. „Schon bald könnt Ihr schlafen.“ Und ich habe vielleicht ein paar Minuten Ruhe.

Er trat zur Tür und atmete tief durch. Grubb wusch die Ruhrpatienten, die Köchin war versorgt – also blieb nur noch die junge Dame, die vor zwei Tagen mit Verdacht auf Schlafkrankheit eingeliefert worden war. Die Schlafkrankheit war eine tückische Sache. Menschen, die an der Schlafkrankheit litten, waren in ihren rasch dahinschwindenden Wachphasen desorientiert und vergaßen immer wieder, wer und wo sie waren. Der Schluckreflex blieb den auch im Schlaf mit offenen Augen vor sich hin starrenden Patienten erhalten, was es den Ruhehelfern ermöglichte, sie mit Honigwasser und Brei zu versorgen. Trotz dieser Maßnahmen verstarben die Kranken typischerweise nach wenigen Tagen Dauerschlaf. Sie hörten einfach auf zu atmen.

Rasmus war nicht im Dienst gewesen, als man die bedauernswerte Schläferin in das Ruhehaus eingeliefert hatte. Sie sei in einer Kutsche gekommen, hatte Grubb ihm zugeraunt. Grubb, der sonst eigentlich nie etwas sagte. „Schönes Fleisch für Ruhehelfer“, hatte er in seinem unverständlichen Dialekt genuschelt. „Dame schläft in Ruhe. Ruhe ist gut. Sehr gut.“

Nun würde er die Dame endlich einmal kennenlernen. Die Heiler hatten sie abseits von den anderen Patienten in einem kleinen Ruheraum untergebracht, der unmittelbar an den Raum der Wunden angrenzte. Rasmus öffnete leise die Tür und betrat die fensterlose Kammer, in der eine verglaste Laterne das karge Mobiliar, die vier Betten und die einsame Schläferin in ein bleiches Licht tauchte. Die schlafende Frau ruhte in einem Bett auf der gegenüberliegenden Seite. Rasmus trat behutsam zu ihr und sah sie zum ersten Mal aus der Nähe.

Bei den Zwillingsgöttern, sie war wirklich schön. Zumindest, so weit Rasmus das bei einer Frau beurteilen konnte. Ihr braunes, schulterlanges Haar lag offen auf dem Kissen und bildete einen wirbelnden Rahmen um ihr kleines, weißes Gesicht. Sie hatte eine Stupsnase und ihr Mund stand leicht offen. Ihre Gliedmaßen waren unter einer schweren Decke verborgen, lediglich ein Arm hing schlaff vom Bett herab. Die Frau bewegte sich nicht. Bis auf das leise Pfeifen ihres Atems war es still. Augenscheinlich hatte sogar die Köchin im Nebenraum ihr Gewimmer aufgegeben. Rasmus sah die schlafende Schöne mitleidig an und legte ihr sachte eine Hand auf die Stirn. Vielleicht hatte sie Fieber und brauchte …

Dunkelheit. Die Dunkelheit war von flackerndem Licht erhellt, und er rannte. Der Stern und Schatten brannte, und die Schreie, die über die Häuser hinweg hallten, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Der Dolch steckte noch immer in seiner Schulter und seine rechte Seite war blutüberströmt. In heller Panik floh er die Gasse hinunter. Er wusste, dass sie ihn verfolgen würden, und er wusste auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihn eingeholt haben würden. In seinem Zustand konnte er ihnen unmöglich entkommen. Er brauchte Hilfe. Er brauchte einen Heiler. Er hörte Stimmen. Hastig bog er um eine Ecke, aber er verlor zu schnell zu viel Blut. Weiter, immer weiter. Eine andere Ecke und noch eine. Jetzt eilte er durch Dunkelheit, süße Dunkelheit. Er lauschte und hörte nur seinen flatternden Puls. Er wurde schwächer, aber er schleppte sich unbarmherzig weiter und sein Ziel war jetzt nah. Er durchquerte eine Tür. Es roch nach Exkrementen und Tod und er blieb zitternd stehen. Er rief einen Namen, doch niemand antwortete. Er sank auf ein Knie. Er war so weit gekommen. Wo waren seine Retter? Vielleicht hörten sie ihn nicht. Vielleicht schliefen sie irgendwo, während er hier verblutete. Er schrie aus Leibeskräften.

Er schrie aus Leibeskräften. Rasmus lag auf dem steinernen Fußboden des Ruheraumes und schrie mit schriller Stimme. Die Laterne flackerte und erschien ihm blendend hell, als er in Panik die Augen öffnete und blitzartig erkannte, wo er war. Er verstummte. Die schlafende Frau hatte sich aufgesetzt und ebenfalls die Augen aufgerissen. Ihre Decke war zu Boden gefallen und Rasmus sah, dass sie nur mit einem weißen Leinenhemd bekleidet war. Sie gab einen stöhnenden Zischlaut von sich und begann, unkontrolliert zu zucken und mit den Augen zu rollen. Rasmus wusste nicht, wie ihr geschah und kroch auf sie zu. „Ruhig, meine Schöne, ruhig!“, rief er halblaut. Die Frau verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, schrie gellend auf, fiel dann auf ihr Lager zurück und lag still.

Rasmus zitterte am ganzen Körper. In seiner Verwirrung war er sich sicher, dass sie tot war und dass er etwas damit zu tun hatte. Eine gute Geschichte beginnt immer mit einem Mord, fielen ihm Flemmings Worte wieder ein. Er musste sich beherrschen, um nicht hysterisch loszulachen. Das habe ich ja prima hingekriegt. Flemming wird begeistert sein. Dann gaben seine Knie nach und er sackte auf ihrer Decke zusammen.

Flemming

463 n.Z., zweiter Tag des Langmondes

Die Welt konnte wahrlich ungerecht sein. Flemming lächelte glückselig und gestattete sich, Rasmus ein wenig zu bedauern, während er seinen Heuholzer leerte. Für Rasmus die Ruhr, für mich den Wein. So ist das Leben, meine Freunde. Grässlich und wunderbar. Flemming gluckste selbstzufrieden in seinen Becher, steckte die Scherben in eine Tasche und stand schwankend auf. Der Krug bricht im Zerbrochenen Krug. Ob er wohl ein Lied über dieses kleine Missgeschick schreiben sollte? Er hatte bereits einen Refrain im Kopf … etwas rhythmisches, am besten mit einem Tamburin und einem scheppernden Schellenkranz. Das Lied würde prächtig werden. Der ganze Abend versprach, prächtig zu werden. Er war jetzt genau in der richtigen Stimmung, ein paar Lieder zum Besten zu geben. Der Lärmpegel im Zerbrochenen Krug war immer noch grundsolide, aber Flemming hatte eine gute Stimme und kannte eine Unmenge an Trinkliedern, die dem Publikum zu dieser späten Stunde sicherlich gefallen würden.

Just als er den Entschluss gefasst hatte, sich zu den drei Barden auf der Bühne zu gesellen, entdeckte er einen rostfarbenen Haarschopf in der Nähe der Theke. Flemming kniff die Augen zusammen und schaute genauer hin. Bei Tempos‘ Harfe, heute war wahrlich sein Glückstag. An der Theke wartete niemand anders als die wilde Kleine mit der kratzigen Stimme, die zwei wundervolle Monde lang sein Bett geteilt hatte, bevor sie nach dem unglückseligen Zwischenfall mit Rasmus verschwunden und nie wieder aufgetaucht war. Höchste Zeit, die Dinge wieder ins rechte Licht zu rücken. Wie hieß sie doch gleich? Irgendwas mit N… oder M? Flemming steuerte um einen Tisch herum, an dem vier Männer in ein Würfelspiel vertieft waren. Das Mädchen hatte ihn nicht bemerkt und redete auf einen Fremden mit schulterlangem Haar ein, der schwarzes Leder trug und dessen ebenmäßiges Gesicht sorgfältig rasiert war.

„Hallo Feuerkopf!“, begrüßte Flemming das Mädchen. „Wie ich mich freue, Dich zu sehen!“

Feuerkopf drehte sich um und starrte ihn aus eisblauen Augen an. Nach einem Herzschlag des Erkennens verzog sie ungläubig das Gesicht und sah dabei absolut hinreißend aus. „Du?“, fragte sie. „Was machst Du denn hier?“

Was für eine brillante Begrüßung. „Wonach sieht es denn aus? Natürlich arbeite ich, meine Liebe! Kann man das nicht sehen?“

„Oh, ich sehe vieles. Zum Beispiel einen Narren, der glaubt, ein Kriegerzopf verlängere seine Männlichkeit.“, erwiderte Feuerkopf lakonisch. „Darf ich vorstellen?“ Sie wandte sich an ihren schweigenden Begleiter, der beinahe ebenso groß war wie Flemming. „Keshar, das ist Flemming. Ein, äh …“ – sie stockte für einen kurzen Moment – „… ehemaliger Freund. Flemming, das ist Keshar. Ein …“

„… aktueller Freund?“, unterbrach Flemming sie hilfsbereit.

„… ein aktueller Freund“, wiederholte Feuerkopf. „Ich freue mich, Dich zu sehen, Flem.“

„Wunderbar! Ich freue mich auch, …“ Verdammt. Wie hieß sie nochmal? „… Feuerkopf?“, ergänzte er lahm.

„Der Feuerkopf heißt Nalissa“, half sie mit schiefem Lächeln, schürzte die blassen Lippen und tat einen Schritt auf ihn zu. Für einen Moment dachte Flemming, sie wollte ihn umarmen. „Nalissa. Das Mädchen, das Du in tausend Balladen unsterblich machen wolltest. Du erinnerst Dich sicherlich.“

„Tausend Balladen, natürlich. Seitdem Du mich verlassen hast, denke ich an nichts anderes mehr und …“

„Spar Dir das Geseier!“, fuhr sie ihn an. „Ich freue mich, Du freust Dich, alle freuen sich! In Deiner Welt ist immer alles sehr einfach, nicht wahr?“

Flemming hatte keine Ahnung, worauf sie hinauswollte. Genauso wenig hatte er eine Ahnung, wer dieser für seinen Geschmack viel zu gut aussehende Keshar war, dessen dunkelbraune Augen ununterbrochen im Schankraum umherwanderten und der zwei beunruhigend aussehende Krummdolche an seinem Gürtel trug. „Was spricht dagegen, sich zu freuen?“, rechtfertigte sich Flemming. „Die Welt ist traurig genug ohne mich!“

„Mit Dir erst recht. Und jetzt freu Dich bitte alleine weiter, Flem!“, schnappte Nalissa. „Wir haben uns nichts mehr zu sagen, und Keshar und ich haben zu tun!“

Jawohl, Sir Feuerkopf. Flemming überlegte, ob er zum Abschied salutieren sollte, besann sich dann aber eines Besseren und nickte nur. Er drängte an den Beiden vorbei, nickte dem Wirt zu, der seine Zeche wie üblich anschreiben würde und trat zur Tür. Ein schriller Pfiff von drinnen ertönte und Flemming schaute überrascht zurück. Etwas flog ihm entgegen. Er riss die Hand nach oben und war verblüfft, als er einen Münzbeutel in der Hand hielt. Noch verblüffter war er, als er feststellte, dass es sein eigener war. Das dünne Mädchen winkte ihm zu. Diese elende kleine Hure. Flemming beschloss zu lächeln und zurückzuwinken. Immerhin hat sie den Beutel nicht behalten. Nicht, dass es einen großen Unterschied gemacht hätte, denn sein Beutel war schon seit längerem nicht mehr allzu gut gefüllt. Er sollte mehr singen und weniger trinken. Gleich morgen würde er damit anfangen. Ja, morgen wäre ein guter Zeitpunkt.

Bliebe nur noch zu klären, was er mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Trotz der aufziehenden Wolken war es warm und drückend. Um in die Stube zurückzukehren, war es zu früh, und Flemming stand sowieso nicht der Sinn nach einer einsamen Nacht. Nach kurzer Überlegung entschied er sich für den Stern und Schatten. Bei diesem Etablissement handelte es sich um ein kleines Bordell in Alt-Annstein, von dem er wusste, dass die Mädchen seine Flöte schätzten. Und bei den Göttern, er hatte gerade große Lust, seine Flöte in Aktion zu erleben.

Guten Mutes schritt Flemming aus. Jetzt, wo er ihren Namen wieder wusste, erinnerte ihn die Begegnung mit Nalissa an die gute alte Zeit, als er nichts als Unsinn im Kopf gehabt hatte. Drei Monde war es jetzt her, dass er mit Rasmus in Annstein eingetroffen war. Vor einem guten Jahr war Flemming aus dem kleinen Dorf Zweibrunnen, in dem er geboren und aufgewachsen war, aufgebrochen – als Begleiter des alten Meisters Grünspan, der schon seit Ewigkeiten in jedem Sommer über die Dörfer zog und Lieder und Neuigkeiten gegen Kost und Logis eintauschte. Der weißhaarige Barde, der für jedes Zweibrunner Kind eine Geschichte oder ein Lied übrig hatte, war wie immer im einzigen Gasthof des Ortes untergekommen – genau zu der Zeit, als Flemming dort Abend für Abend auf der Piccoloflöte aufgespielt hatte. Schnell waren sie ins Gespräch gekommen, und nach zahlreichen Anekdoten vom Leben auf Wanderschaft hatte Flemming den alten Mann geradezu angebettelt, ihn mitzunehmen. Meister Grünspan hatte sich zunächst beharrlich geweigert, auf seinen Reisen einen Halbwüchsigen durchzufüttern, aber am Ende hatte er nachgegeben. Vermutlich hatte der alte Mann irgendwann bemerkt, wie talentiert Flemming seine Flöte beherrschte. Oder seine fortdauernden Bitten hatten den Alten mürbe gemacht. Oder beides.

Es war die beste Entscheidung seines jungen Lebens gewesen, Zweibrunnen zu verlassen. Meister Grünspan war mit ihm über die Dörfer gezogen und hatte seinen Umgang mit der Flöte perfektioniert. In Seldenbrück hatten sie einen schüchternen Jungen namens Rasmus eingesammelt. Flemming hatte von Anfang an vermutet, dass dessen Vater die gemeinsame Reise arrangiert hatte. Meister Grünspan und Flemming hatten eine Nacht am Hof von Rasmus’ Familie verbracht, und am nächsten Morgen hatte der Junge sich unter den Tränen der aufgelösten Mutter und dem kühlen Schweigen des Vaters ihrer kleinen Reisegesellschaft angeschlossen. Nach zahlreichen Meilen, unzähligen weiteren Dörfern sowie diversen freiwilligen und unfreiwilligen Umwegen hatten die drei Wanderer ihr Packpferd sowie sämtliche Güter an eine Horde Straßenräuber verloren, waren aber schließlich und endlich wohlbehalten in Annstein eingetroffen.

Hier haben wir am ersten Abend gestanden und gelacht, erinnerte sich Flemming. So betrunken, dass wir von hier oben in die Ann gepisst haben. Sein Weg führte ihn über die Zwillingsbrücke – die östlichste der insgesamt sieben Brücken von Annstein. Man nannte die Stadt der Künste treffenderweise auch die „Stadt der sieben Brücken“, und Flemming schob sich in Sichtweite der mächtigen Zwillingstürme durch die zahlreichen Menschen, die die warme Sommernacht für ein Schwätzchen oder einen Spaziergang nutzten. Die Stadt der Künste hatte es nicht nötig, sich hinter einer durchgehenden Stadtmauer zu verstecken. Die Ann floss träge und behäbig mitten durch Annstein hindurch. An der östlichen Stadtgrenze war der Fluss durch die sogenannten Zwillingstürme gesichert, die nach den Zwillingsgöttern Jalid und Adana benannt waren und in etwa hundert Fuß Höhe durch einen säulengestützten Wehrgang verbunden waren. In Kriegszeiten wurden zwei mächtige Fallgitter in die Ann heruntergelassen und versperrten Schiffen wie Schwimmern den Zugang ins Innere der Stadt der Künste.

Mit Wehmut dachte Flemming an den Tag zurück, als er und Rasmus die Türme der Stadt zum ersten Mal am Horizont gesehen hatten. Meister Grünspan hatte Wort gehalten und sie wohlbehalten in der größten Stadt der Mittlande abgeliefert, und in den letzten Tagen ihrer Reise hatte der Frühling sich mit Macht entfaltet und die Hügel um Annstein herum in ein einziges Blütenmeer verwandelt. Er erinnerte sich, als ob es gestern gewesen wäre. Die sanft errötende Sonne über den weißen Schleiern des Frühnebels. Das helle Flöten der ersten Vögel. Knospende Triebe, bunt blühendes Gesträuch. Ein sanfter Frühlingsregen, der einen prächtigen Regenbogen zurückgelassen hatte. Bauern, die Reben gebunden, Olivenbäume beschnitten und die Saat ausgebracht hatten. Mädchen hatten ihm zugewunken, und er hatte einen imaginären Hut gezogen und sich lachend verbeugt, bis Meister Grünspan ihn ermahnt hatte, diesen Unsinn zu lassen.

Später hatten sie die Tore durchschreiten dürfen – die Tore der großen, faszinierenden, lauten, erschreckenden und wunderschönen Metropole an der Ann, die ihn mit offenem Mund zurückgelassen und all seine naiven Erwartungen um ein Vielfaches übertroffen hatte. Eine Flut karmesinroter, sandfarbener, ockergelber oder weiß getünchter Häuser, so weit das Auge reichte. So viele Menschen hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen. Alle paar Schritte ein neuer fremdartiger Geruch, der den üblen Gestank der Metropole nur notdürftig überlagerte. Und über dem Schreien der Händler, dem Knarren der Fuhrwerke und dem nie endenden Lärm der Stadt lag das Gekreische der Möwen, die sich vom salzigen Meerwind tragen ließen. Die Gilde der Propheten, mit mächtigen Mauern auf dem Hügel der Wahrheit thronend, war ohne Zweifel das prächtigste Gebäude, das er je gesehen hatte. Keine halbe Stunde später hatte er seine Meinung geändert, als Meister Grünspan sie an der Halle der Ratsherren vorbei führte. Und am Nachmittag desselben Tages korrigierte er sich ein zweites Mal, als er mit Rasmus staunend vor dem hohen Tempel der Zwillingsgötter stand und sich den Hals verrenkte, um die filigranen Türme zu bestaunen, die bis in den Himmel zu reichen schienen.

Genau in diesem Moment hatte Feuerkopf versucht, sie zu bestehlen. Und wenn Rasmus nicht gewesen wäre, hätte sie durchaus Erfolg gehabt. Rasmus hatte blitzschnell reagiert und das Mädchen mit dem rostfarbenen Haar am Arm gepackt, aber Feuerkopf hatte sich wie ein Aal gewunden, losgerissen und war in der Menge verschwunden. Wer hätte in diesem Moment gedacht, dass sie noch nicht einmal eine Woche später das Bett mit ihm teilen würde? Seit dieser unglücklichen Geschichte mit Rasmus war sie Hals über Kopf aus seinem Leben verschwunden, aber all das war Vergangenheit, und heute Abend war sie wieder aufgetaucht. In Deiner Welt ist alles immer sehr einfach, nicht wahr, hörte er Feuerkopfs kratzige Stimme in seinem Kopf. Sie hatte ihn nicht bestohlen. Stattdessen hatte sie ihm zugewunken. Ihm wurde erst jetzt klar, wie sehr er sie vermisst hatte. Flemming war nicht der Mann, der schnell aufgab. Er würde sie wiedersehen. Gleich morgen. Ja, morgen wäre ein idealer Tag dafür.

Eine rote Laterne stand in einem offenen Fenster und tauchte die Straße in flackernde Schatten. Derbes Gelächter und ein spitzer Schrei drangen nach draußen. Flemming hatte den Stern und Schatten erreicht und trat voller Vorfreude durch die Tür. Zu dieser späten Stunde würden nur noch wenige Freier unterwegs sein, was bedeuten würde, dass er die Mädchen ganz für sich alleine haben würde. Viele von ihnen hörten ihm gerne zu – Mutter Nina, die blonde Betsy oder die blasse Mirabel, die schon seit Jahren vorgab, Jungfrau zu sein. Er blinzelte und sah sich um. Im Zwielicht des künstlichen Sternenhimmels, dem das Bordell seinen Namen verdankte, warteten keine Mädchen auf ihn, sondern zwei Männer. Einer der beiden trug schulterlange Haare, hatte eine gespannte Armbrust neben sich liegen und drehte diese beiläufig in seine Richtung. Der groß gewachsene Andere rief „Kundschaft!“, und der mit der Armbrust sagte: „Heb Deine Hände zu den Sternen und rühr Dich nicht vom Fleck, Junge, sonst mache ich ein hübsches Loch in Dein Wams, hehehe!“

Flemming hob die Hände und erstarrte. Was zum Henker ging hier vor? Der Große schlenderte zu Flemming hinüber und tastete ihn sorgfältig ab. Das Kurzschwert, die Spielkarten, die neuen Würfel, der billige Tabak, seine Haarbänder und sogar die Flöte seines Vaters landeten achtlos im Staub. Nur den Münzbeutel nahm der große Mann mit sich, leerte ihn auf den Tisch und fluchte. Der Beutel beinhaltete nichts als Tonscherben. Die elende Hure. Sie hat mir zugewunken.

„Wollt Ihr damit die Huren bezahlen?“, zischte der Bewaffnete und deutete grollend auf den Tisch. „Wo ist Euer Gold, Mann, und was habt Ihr hier zu suchen?“

„Ich verbiete mir diese Behandlung! Ihr sprecht mit niemand anderem als Flemming Flinkfinger, Barde in Ausbildung, Lehrling des ehrenwerten Meisters Grünspan! Was fällt Euch ein, mich zu bedrohen? Und wo sind die Mädchen?“

Der Andere schlug Flemming mit dem Rücken seines nietenbesetzten Handschuhs ins Gesicht. Es knackte grässlich und Flemming war für den Bruchteil einer Sekunde zu überrascht, um irgendetwas zu fühlen. Dann blitzte der Schmerz auf und sein Blickfeld färbte sich rot. „Ihr redet zu viel, Barde. Und ich stelle hier die Fragen“, erklärte der Mann und holte erneut aus. Der Armbrustschütze lachte meckernd.

Jemand polterte die Treppe herunter. „Was geht hier vor sich?“

„Der da behauptet, ein Barde zu sein. Er kam einfach hier reinspaziert, Hauptmann!“

„Ach, und das überrascht Euch? Das hier ist ein gottverdammtes Bordell! Könnt Ihr die Türe nicht versperren, Ihr Arschlöcher?“ Der Mann von der Treppe trat ein paar Schritte auf Flemming zu. „Sieh an. Ich glaube, wir kennen uns. Der Krug bricht im Zerbrochenen Krug. Die Welt ist klein, nicht wahr, Barde?“ Er wandte sich zu den Anderen. „Nehmt ihn mit. Und sperrt endlich die verfluchte Tür ab. Ich dulde keine weiteren Störungen mehr!“

Flemming war schlagartig nüchtern geworden, versuchte vergeblich, den roten Schleier vor seinen Augen wegzublinzeln und spuckte einen Vorderzahn aus. Einen zweiten schien er versehentlich verschluckt zu haben. Der Glatzkopf. Der Glatzkopf aus dem Zerbrochenen Krug. Die Bewaffneten zerrten ihn kurzerhand die Treppe hinauf. Die Türen, die zu den Mädchen führten, waren verschlossen. Jemand kreischte.

„Ihr solltet sie knebeln, verdammt! Bei diesem Geschrei kann doch kein Mensch vernünftig arbeiten! Der Wahrprediger soll singen, nicht die verfluchten Schlampen!“

Sie stießen ihn in Mutter Ninas Gemach, aber die wortgewaltige Inhaberin des Stern und Schatten war nirgendwo zu sehen. Jemand hatte ein Feuer im Kamin geschürt und es war brüllend heiß. Ein nackter Mann mit kurzgeschorenen grauen Haaren war mit den Handgelenken an einen Dachbalken gefesselt. Sich mit den Füßen mühsam auf einer seitlich platzierten Kommode abstützend, die allerlei Flaschen trug, hing der Nackte in einer abenteuerlichen Verrenkung von der Zimmerdecke herab. Auf dem ausladenden Bett saßen ein riesenhafter, blonder Nordling und ein hohläugiger Mann mit einem schwarzen Kriegerzopf in trauter Eintracht nebeneinander. Der Armbrustschütze, der ihn nach oben geleitet hatte, deutete Flemming, sich in eine Ecke zu stellen, bevor er sich ebenfalls auf das Bett fallen ließ. Der verbleibende Bewaffnete eilte nach draußen.

„Wer ist das, Brax?“ Der Mann mit dem Kriegerzopf bohrte mit einem Dolch unter seinen Fingernägeln herum.

„Ein Barde. Er schuldet mir noch einen Gefallen. Vielleicht bringt er unseren Wahrprediger zum Singen.“

„Vielleicht. Ich brauche kein Vielleicht, Brax. Ich brauche sein Geständnis und seine Unterschrift. Unter diesem wunderschönen Brief.“ Er deutete auf das Pergament, das neben ihm lag.

Der Mann, der nackt vor dem Spiegel hing, kreischte verzweifelt auf. „Ihr seid verrückt. Völlig verrückt. Wisst Ihr überhaupt, wen Ihr vor Euch habt? Ich bin Iestoban der Dichterprophet, ein Wahrprediger der Innersten Wege! Ich habe mächtige Freunde im Wahren Rat!“

„Und auch mächtige Feinde, fürchte ich.“ Der hohläugige Mann legte seinen Dolch beiseite. „Das Gewinsel langweilt mich. Was ist los, Brax? Wollt Ihr schon bei dieser ersten Prüfung versagen?“

„Ihr braucht nicht zu zweifeln, Stynar. Der Schwörer ist zwar von uns gegangen, aber auch Jorg versteht dieses Handwerk.“ Der Mann namens Brax gab dem hünenhaften Nordling einen Wink. Dieser stand auf und schlug dem wehrlosen Wahrprediger in den Magen. Der nackte Mann rang verzweifelt nach Luft, glitt von der Kommode ab und baumelte hilflos im Raum hin- und her. Der Nordling pfiff eine leise Melodie, während er methodisch Schläge in die Nieren folgen ließ.

Der Glatzkopf trat in aller Seelenruhe zum Kamin, legte den Schürhandschuh an und füllte eine dampfende Flüssigkeit aus einem Topf in eine Feldflasche um. Er ließ die Feldflasche kreisen, nahm einen Schluck und verzog wohlig das Gesicht. „Ah! Das ist gut! Du kannst jetzt aufhören, Jorg!“

„Was ist das für ein Zeug, Brax?“ Der Mann namens Stynar deutete neugierig auf die Feldflasche.

„Salbeitee.“

„Das ist nicht Euer Ernst.“

„Es ist verfluchter Salbeitee. Gut für die Mundhygiene. Und erinnert mich an die Heimat.“

Stynar lachte bellend und zog seinerseits eine Feldflasche hervor. „Riecht mal. Das hier ist gut für die Mundhygiene.“

„Ich trinke keinen Alkohol, Stynar, und Ihr solltet das auch nicht. Das Zeug macht Euch kaputt.“

„Das ist mehr als Alkohol. Das ist ein doppelt gebrannter Berganer. Der Trunk der Götter. Eines muss man den Lombrianern lassen – sie können Schnaps brennen. Bei den Göttern, das können sie!“ Der hohläugige Mann nahm einen Schluck aus der Flasche und verzog genussvoll das Gesicht. Der Wahrprediger, der von der Decke baumelte, hatte begonnen, hin- und herzuschwingen. Als seine Zehen endlich die Kommode gefunden hatten, schnappte der Gefesselte keuchend nach Luft.

„Ihr wisst, dass sie jeden Schnaps nach irgendeinem verdammten Gott benennen? Bergan ist ihr Gott der Wahrheit. Als ob Ihr die Wahrheit in dieser Flasche finden würdet, Stynar!“

„Eher als Ihr in Eurem Tee!“ Stynar lachte.

Der Armbrustschütze hielt seine Waffe schussbereit auf den Bauch des Barden. Der Glatzkopf antwortete nicht. Stattdessen wandte er sich an Flemming, der sich nicht vom Fleck rührte. „Ihr habt mich in der Stadt der Künste willkommen geheißen, Barde. Gerne gebe ich dieses Willkommen zurück. Wie heißt Ihr?“

„Flingfng“, hauchte Flemming. „Flemmg Flingfng.“ Er spuckte Blut und betastete seinen Kiefer. Der Mann mit dem Nietenhandschuh hatte ihm zwei Vorderzähne ausgeschlagen. Er konnte nicht mehr richtig sprechen. Wahrscheinlich konnte er auch nicht mehr spielen.

„Welches Instrument spielt Ihr?“

„Iff … iff fpiele Flöte, Herr.“

„Das ist gut. Ich glaube, unser Gast würde gerne tanzen.“ Der Glatzkopf gab dem Nordling einen Wink. Dieser grinste, zog den Schürhandschuh an, nahm die Schaufel und trat zum Kamin.

„Meine Flöte. Fie … fie ift unten. Unten im Ftaub, Herr!“

Der Mann mit dem Kriegerzopf verließ den Raum und kam wenig später mit Flemmings Flöte zurück. Der Nordling griff nach einem Tiegel und begann, die Füße seines Opfers mit Fett einzureiben. Der Dichterprophet schien zu ahnen, was ihm bevorstand, denn er zappelte, riss die Augen auf und begann zu kreischen. Ungerührt legte der Nordling den Tiegel beiseite und schlug dem Anderen erneut in den Magen. Das Gekreische verebbte zu einem gequälten Röcheln, während der Nordling nach einer Kaminschaufel griff und in aller Seelenruhe Glut in einen dickbauchigen Tontopf füllte.

„Der Schwörer hätte ihm das Geständnis schon längst abgerungen“, bemerkte der hohläugige Mann mit dem Zopf.

„Der Schwörer hatte Messer, ich habe nur meine Fäuste!“, verteidigte sich der Nordling, schob den glimmenden Topf mit Hilfe seiner Stiefel unter die Füße des Wahrpredigers und schichtete Feuerholz darauf.

„Haltet Euer Maul, Stynar. Jorg ist ein guter Mann.“ Der Glatzkopf wandte sich an den Wahrprediger, der krampfhaft zuckte, seine Füße so weit wie möglich ans Kinn ziehend. „Gesteht Ihr, Wahrprediger Iestoban?“

„Ich … Nein. Bitte!“ Dem Dichterpropheten traten beinahe die Augen aus dem Kopf, als die ersten kleinen Flammen aus dem Holzstapel unter seinen Füßen leckten.

„Spielt, Barde“, wies der Glatzkopf Flemming an. „Unser Freund möchte tanzen. Eine Metapher, versteht Ihr? Ein Bild im Bild!“

Mit zitternden Händen griff Flemming nach der Flöte seines Vaters und spielte die ersten Takte des Pichlerreigens. Es war beinahe unmöglich, mit der Zahnlücke den richtigen Ansatz zu finden. Der Nordling wischte sich das Fett von den Händen und blies in die Glut. Schmerz pochte in Flemmings Kopf. Der Armbrustschütze lachte. Die Flammen loderten hell empor. Wahrprediger Iestoban schrie. Es knackte im Gebälk. Der widerliche Geruch von gebratenem Fleisch breitete sich aus, während die Haut an den Füßen des Wahrpredigers zischte und aufplatzte.

Flemming würgte und ließ die Flöte sinken. „Spielt, Barde!“, donnerte der Glatzkopf. „Kyle, wenn er noch einmal aufhört, schießt Du!“ Bebend setzte Flemming das Instrument wieder an. Die Schreie des Wahrpredigers waren in ein schrilles Heulen übergegangen. Während er hin- und herschwang, brannten seine Füße wie zwei Fackeln.

Der Barde hatte noch nie so etwas Grauenvolles gesehen. Er spielte das Rote Herz der Liebe. Der Wahrprediger kreischte hysterisch.

„Gesteht Ihr jetzt?“, wollte der Glatzkopf wissen.

Der Schrei des Gefolterten hätte ebenso gut „Ah“ wie „Ja“ bedeuten können. Der Glatzkopf gab dem Nordling einen Wink. Der Folterknecht warf den schwarzweißen Umhang des Opfers über den Topf, aus dem die Flammen leckten. Der hohläugige Mann stand auf einmal neben Flemming und stieß seine Flöte weg. „Bei den Göttern, Ihr spielt ja grässlich! Hört sofort auf, Mann!“ Er nahm einen tiefen Zug aus der Feldflasche, torkelte und wäre beinahe in den Feuertopf gefallen, aus dem nunmehr beißender Rauch quoll.

„Unterschreibt das verfluchte Geständnis, bevor wir hier alle ersticken!“, herrschte der Glatzkopf den gemarterten Wahrprediger an. „Und Ihr, Stynar, solltet mit dem Trinken aufhören. Seht Euch doch an. Einst wart Ihr der beste Schwertkämpfer der Mittlande. Niemals ging Eure Hand fehl. Und jetzt sitzt Ihr hier, sauft Euch zu Tode und …“

„Ich bin noch immer der Beste!“, prahlte der Mann mit dem Kriegerzopf. „Hütet Eure Zunge, Brax!“

„Macht Euch nicht lächerlich. Jorg, schneidet unseren Freund los. Er wird gestehen. Nicht wahr, Iestoban?“

Der Dichterprophet antwortete nicht. Er schien die Besinnung verloren zu haben.

„Ich werde es beweisen, Arschloch!“, schnappte der Mann namens Stynar. Auf einmal hielt er drei Dolche in der Hand. „Meine Hand geht noch immer niemals fehl! Ich bin derselbe, der ich damals war!“

Der Glatzkopf winkte verächtlich ab und hustete. Der Nordling zog ein Messer und kletterte auf die Kommode, um den Wahrprediger loszuschneiden. Die Füße des Bewusstlosen waren aufgeplatzt. Fett tropfte auf den qualmenden Umhang.

„Barde, bewegt Euch nicht!“ Etwas flog durch die Luft und blieb sirrend neben ihm in einer Wand stecken. Ehe Flemming wusste, wie ihm geschah, holte der Schwertkämpfer ein zweites Mal aus.

„Stynar, seid Ihr verrückt geworden?“ Der Glatzkopf starrte ungläubig auf den Mann mit dem Kriegerzopf. „Wir müssen hier raus! Keine Zeit für irgendwelche Spielchen!“

Der zweite Dolch flog auf Flemming zu und verfehlte sein Gesicht nur um eine Handbreit. Der Mann namens Stynar grinste irre. „Schwertmeister Stynar! Die Hand, die den Tod bringt! Die Hand, die niemals ihr Ziel verfehlt! Und jetzt… passt auf!“ Der Schwertkämpfer vollführte eine halbe Drehung und stieß gegen den Nordling, der sich weit nach vorne lehnen musste, um die Fesseln des Wahrpredigers zu durchtrennen. Das Messer verfing sich in den Schnüren des Opfers und der Nordling verlor das Gleichgewicht. Der Dolch verließ die Hand des Werfers, drehte sich in der Luft und blieb in Flemmings rechter Schulter stecken. Der Nordling stürzte wie ein schwerer Sack zu Boden. Die Schnüre, die den bewusstlosen Wahrprediger an den Balken gebunden hatten, rissen. Der Dichterprophet stürzte zu Boden und warf den Feuertopf um.

Flemming riss ungläubig die Augen auf. Aus seiner Schulter ragte ein Griff aus Perlmutt. Alles geschah wie in Zeitlupe. Er starrte auf die blauen Einlegearbeiten in dem Dolchgriff, während die Kommode, auf der der Nordling gestanden hatte, schwankte und kippte. Der Feuertopf zerbrach mit lautem Klirren. Die Flaschen und ihr Inhalt ergossen sich auf die am Boden verteilte Glut. Stichflammen schossen in die Höhe, und der bedauernswerte Dichterprophet, der just im falschen Moment das Bewusstsein wiedererlangt hatte, schrie gellend auf. Auch der Nordling hatte Feuer gefangen und kreischte nicht minder schrill. Die Armbrust des Langhaarigen löste sich, der Bolzen pfiff durch die Luft und prallte irgendwo gegen eine Wand. Stinkender Rauch waberte durch das Zimmer, und Männer brüllten, heulten und kreischten.

Seine Instinkte übernahmen das Kommando. Blutverschmiert hastete Flemming aus dem Zimmer, trat die gegenüberliegende Türe ein, ignorierte das Kreischen der Mädchen und sprang kurzerhand aus dem Fenster. Es war nur ein Stockwerk bis zum Boden, und es gelang ihm, mit den Füßen zuerst zu landen und sich nichts dabei zu brechen. Menschen schrien hinter ihm, über ihm, überall um ihn herum. Er bemerkte nicht, dass er selbst es war, der am lautesten schrie.

Dunkelheit. Die Dunkelheit war von flackerndem Licht erhellt, und er rannte. Der Stern und Schatten brannte, und die Schreie, die über die Häuser hinweg hallten, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Der Dolch steckte noch immer in seiner Schulter und seine rechte Seite war blutüberströmt. In heller Panik floh er die Gasse hinunter. Er wusste, dass sie ihn verfolgen würden, und er wusste auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihn eingeholt haben würden. In seinem Zustand konnte er ihnen unmöglich entkommen. Er brauchte Hilfe. Er brauchte einen Heiler. Rasmus. Das Haus der Ruhe. Er hörte Stimmen. Hastig bog er um eine Ecke, aber er verlor zu schnell zu viel Blut. Weiter, immer weiter. Eine andere Ecke und noch eine. Jetzt eilte er durch Dunkelheit, süße Dunkelheit. Er lauschte und hörte nur seinen flatternden Puls. Er wurde schwächer, aber er schleppte sich unbarmherzig weiter und sein Ziel war jetzt nah. Er durchquerte eine Tür. Es roch nach Exkrementen und Tod und er blieb zitternd stehen. Er rief nach Rasmus, doch niemand antwortete. Er sank auf ein Knie. Er war so weit gekommen. Wo waren seine Retter? Vielleicht hörten sie ihn nicht. Vielleicht schliefen sie irgendwo, während er hier verblutete. Er schrie aus Leibeskräften.

Grubb

463 n.Z., zweiter Tag des Langmondes

Grubb konnte Lärm nicht ausstehen. Wenn alle durcheinander redeten und jeder etwas anderes von ihm wollte, konnte er sehr wütend werden. Grubb war nicht gerne wütend. Er mochte es, wenn Dinge klar strukturiert waren und alles seine Ordnung hatte. Im Haus der Ruhe hatte alles seine Ordnung. Lebende gingen hinein, Tote wurden herausgetragen. Und Grubb sorgte dafür, dass alles in Ordnung blieb.

Die heutige Nacht gefiel Grubb gar nicht. Es war seine sechste Nacht am Stück und er hatte schlecht geschlafen. Grubb schlief tagsüber immer schlecht. Er mochte die Helligkeit nicht und er mochte den Lärm nicht. Also hatte er in der winzigen Kammer gesessen, die sein Freund Brax ihm organisiert hatte, und hatte seine Messer geschärft. In letzter Zeit schärfte er seine Messer häufig, obwohl sie aus hochwertigem Sarrantiner Stahl waren und ihre Schärfe lange vorhielt. Grubb achtete nicht allzu sehr auf seine Kammer, aber umso mehr auf seine Messer. Sein Freund Brax hatte ihm die Messer des Schwörers gegeben, nachdem der Schwörer in einer Schlacht seinen halben Arm und sein ganzes Blut verloren hatte. Der Schwörer hatte seinen Messern Namen gegeben. Er hatte Bauern, Soldaten oder Händler mit Hilfe dieser Messer befragt. Anfang und Ende, Finger und Zahn, der Hörer, der Frager und der Schwörer. Irgendwann war jeder bereit, einen oder tausend Eide zu schwören, und nur die wenigsten hielten bis zum Ende durch. Nur ein echter Freund würde solche Messer verschenken. Brax war ein echter Freund.

Anfang und Ende trug Grubb immer bei sich. Finger und Zahn, Hörer, Frager und Schwörer waren in ein ölgetränktes Fell gewickelt und warteten auf den nächsten Krieg. Krieg war gut. Es gab immer etwas zu tun. Wenn nur der Lärm nicht gewesen wäre. In einer Schlacht gab es immer viel zu viel davon. Das Töten machte Grubb nichts aus, aber das Gejammer. Das Gewinsel. Das Bersten von Knochen, der Klang von Metall auf Metall, auf Holz, auf Knochen. Und immer schrie irgendjemand.

Im Braunen Salon schrie niemand, und das war gut. Dafür wurde umso mehr gestöhnt. Grubbs Aufgabe war das Tränken und Waschen der Ruhrkranken. Die Menschen schissen schneller als sie trinken konnten, und andauernd musste er frisches Wasser herbeischaffen. Eine stupide Plackerei, aber Grubb war ausdauernd und der Brunnen war nahe. Der Gestank der Ruhr machte Grubb nichts aus – wohl aber der Lärm. Es dauerte immer einige Zeit, bis die Kranken begriffen, dass Ruhe in Grubbs Gegenwart sehr wichtig war und er notfalls mit eigenen Händen dafür sorgte, dass Ordnung herrschte. Ein Leben war wenig wert im Haus der Ruhe, und noch weniger im Braunen Salon.

Er hatte sich für heute vorgenommen, Zeit mit der schlafenden Dame zu verbringen. Sie war eine richtige Dame, so viel stand fest. Er hatte die Kutsche gesehen, mit der sie eingeliefert worden war. Er hatte die Diener gesehen, die sie begleitet hatten. Und er hatte ihre Haut gesehen. Schneeweiß. Nur Damen hatten schneeweiße Haut. Weiße Haut auf weißem Fleisch. Er bekam schon wieder eine Erektion, als er an ihre Blässe dachte. Die schlafende Dame hatte sehr krank ausgesehen, als die Diener sie eingeliefert hatten. Ob sie wohl schon tot war? Dann könnte er sie endlich die Treppe heruntertragen und waschen. Und nachdem er sie gewaschen hatte, würde er Zeit mit ihr verbringen. Vielleicht hätte er schon längst damit begonnen, wenn er nicht selbst eingeschlafen wäre. Der Kleine hatte ihn geweckt. Der Kleine mit den Sommersprossen. Grubb hasste den Kleinen. Er war zu schnell und zu bestimmend für ihn. Immer wollte der Kleine Grubb sagen, was zu tun war. Aber Grubb wusste selbst sehr gut, was zu tun war. Eines Tages würde Grubb auch den Kleinen die Wendeltreppe heruntertragen und Zeit mit ihm verbringen. Denn im Haus der Ruhe musste Ordnung herrschen.

Grubb wusch Fleisch im Braunen Salon. Die Patienten stöhnten und winselten vor sich hin. Sie baten um Wasser oder Heilung oder auch um einen schnellen Tod. Grubb antwortete nicht. Er mochte den Braunen Salon nicht. Wer dort starb, wurde nicht die Wendeltreppe heruntergetragen und auch nicht gewaschen. Wenn die Drei-Tage-Ruhr jemanden holte, wurde das unglückliche Opfer zu seinesgleichen auf den Leichenkarren gewuchtet und ohne viel Federlesens außerhalb der Stadt verbrannt. Nutzloses Fleisch. Fleisch aus dem Braunen Salon kam nicht in Grubbs Kellergewölbe. Mit diesem Fleisch konnte und wollte er keine Zeit verbringen.

Vierzehn Monde und achtzehn Tage lang diente Grubb bereits im Haus der Ruhe. Hier in Annstein hatte er seine Berufung gefunden, und dennoch vermisste er manchmal seinen Freund Brax. Unter Truppführer Brax hatte Grubb in den Reihen der Tanzenden Klingen gedient und war Teil einer verschworenen Gemeinschaft gewesen. Brax und seine Jungs hatten Menschen zu Fleisch werden lassen und Generalfeldmarschall Bento hatte ihnen Geld dafür gegeben. Gute, harte Münzen. In den stillen Stunden der Nacht, während die Jungs sich mit Bier, Schnaps und Huren vergnügt hatten, hatte Grubb sich Zeit für das tote Fleisch genommen, wann immer sich ihm die Gelegenheit dazu geboten hatte. Sobald die Jungs dem Fleisch den nutzlosen Tand abgenommen hatten, den es mit sich getragen hatte, hatte das Schlachtfeld ihm gehört. Die Jungs hatten es respektiert, dass er manchmal etwas Ruhe brauchte. „Jeder soll auf seine Kosten kommen“, hatte Brax einmal gesagt und gelacht. „Amüsier Dich gut, Grubby.“ Dass Brax ihn ab und zu Grubby genannt hatte, hatte Grubb besonders gerne gemocht. Brax hatte auch gesagt, dass die Tanzenden Klingen niemanden zu fürchten hatten, so lange Grubby auf ihrer Seite kämpfte. Er mochte es, wenn niemand sich fürchtete. Er war gerne Grubby gewesen, doch diese Zeit war nun vorbei. Seit vierzehn Monden und achtzehn Tagen.

In einer Ecke schrie ein Mann nach den Göttern, obwohl Schreien in Grubbs Gegenwart streng verboten war. Der massige Ruhehelfer runzelte die Stirn. Gerne hätte er für Ordnung gesorgt, aber er hatte heute Nacht anderes zu tun. Die schlafende Dame wartete auf ihn, und er hatte sich vorgenommen, Zeit mit ihr zu verbringen. Die Schlafkrankheit war Grubbs liebste Krankheit. Die Menschen waren still, während sie schliefen, und sie waren still, während sie starben. Klare reine Stille. Klarer reiner Frieden. Alles war so, wie es sein sollte.

Grubb verließ den Braunen Salon und ließ Gewinsel, Gejammer und Geschrei hinter sich. Weil die schlafende Dame auf ihn wartete, hielt er sich nicht damit auf, sich zu säubern, sondern betrat schnurstracks den Raum der Wunden, der zum Ruheraum führte. Die Köchin mit der zerschnittenen Hand schlief oder stellte sich schlafend. Grubb lauschte ihren Atemzügen. Noch nicht einmal der Kleine war zu hören. Der Kleine, der ihn immer herumkommandierte. Heute hatte er ihn sogar getreten. Grubb wurde nicht gerne getreten. Brax und die Jungs hatten ihn niemals getreten. Bald war die Zeit gekommen, in der er sich mit dem Kleinen befassen musste. Bald. Aber nicht heute.

Als Grubb die Tür zum Ruheraum öffnete, wäre er beinahe über den Kleinen gestolpert. Die Laterne warf tiefe Schatten, und der Kleine lag reglos auf dem steinernen Boden. Sein Atem war flach und ging stoßweise. Grubb stieg ungerührt über ihn hinweg. Vielleicht würde diese Nacht doch noch ein gutes Ende nehmen. Die blasse Dame hatte ihre Decke verloren. Nur mit einem weißen Leinenhemd bekleidet, lag sie mit geschlossenen Augen vor ihm und regte sich nicht. Grubb hielt ihr eine mächtige Pranke über Mund und Nase, um die Atmung zu prüfen. Flach, schnell, gepresst. Das war sehr gut. Die schlafende Frau würde schon bald sterben. Mit geübten Fingern nestelte Grubb an den Schnüren seiner Lederhose, die sich über einer mächtigen Erektion wölbte. Er würde sie gleich jetzt nehmen, solange sie noch warm war. Der Kleine machte nicht den Eindruck, als ob er ihn dabei stören wollte. Mit ihm würde Grubb sich später befassen. Anfang und Ende, Finger und Zahn, der Hörer, der Frager und der Schwörer. Die Nacht begann vielversprechend. Vielleicht wäre später sogar noch ein wenig Zeit für den Kleinen übrig.

Grubb schob das Leinenhemd der blassen Dame beinahe zärtlich nach oben. Darunter war sie nackt. Ihr Fleisch war warm, fast heiß. Grubb hatte seine Hose aufgeschnürt, befeuchtete seinen Schwanz und schob ihn in das weiße Fleisch der Frau, die der Tod in Kürze von ihrer Schlafkrankheit erlösen würde. Dann würde niemand mehr leiden. Es war eine friedvolle Welt, in die Grubb eintauchte. Friedlich und still. Die Brüste der blassen Frau waren klein, aber fest, und das Dreieck zwischen ihren Schenkeln war aus dunklem Flaum und strich sanft über seinen Bauch, während er lautlos in sie hineinstieß. Es war stickig und heiß. Die Laterne flackerte. Grubb betrachtete die kleinen Brüste der Frau, die im Takt seiner Stöße wippten. Die Welt bestand nur aus seinem Schwanz und diesen Brüsten. Vor und zurück. Vor und zurück. Er sah ihr in das friedliche Gesicht. Alles war ruhig. Alles war gut.

Sie schlug die Augen auf.

Für einen kurzen Moment stand die Zeit still. Die Erkenntnis hatte noch nicht zugeschnappt, und das Bewusstsein der Ungeheuerlichkeit hatte noch nicht eingesetzt. Verständnislos sahen sich Opfer und Täter in die Augen.

Der Moment verstrich.

Nackte Angst. Kalter Schrecken, durchsetzt mit weigerndem Unglauben. Grubb hatte die Augen weit aufgerissen und zog sich panisch aus der blassen Frau zurück, die ihrerseits gellend schrie. Das sollte nicht geschehen. Das war noch nie geschehen. Hätte er doch nur gewartet, bis die Frau gestorben war! Abscheu durchflutete ihn in siedenden Wellen, und all der Friede, den er eben noch gespürt hatte, war dahin. Hier lief etwas grundfalsch. Grubb musste handeln und für Ordnung sorgen, damit dieser Albtraum endete. Er stand immer noch über der Frau, die sich unter ihm wand und um sich trat. Grubb presste sie mit dem Gewicht seines Körpers nach unten und hielt ihr erneut seine Hand über Mund und Nase. Dieses Mal drückte er allerdings zu. „Ruhig, meine Kleine“, wisperte Grubb. „Grubby kümmert sich um Dich.“

Sie biss ihn in die Hand. Er wollte ihre perfekten Formen nicht auf das Spiel setzen und verzichtete darauf, sie zu schlagen. Er ignorierte das Blut, das feucht über ihr Gesicht lief, und beschränkte sich darauf, weiter zuzudrücken. Nicht zu fest, aber fest genug. Schlaf, meine Kleine. Schlaf ein und wir können weiter machen. Im Hintergrund rief jemand irgendetwas, aber schon wurde ihr Zucken schwächer, und Grubbs Schwanz, der zwischenzeitlich erschlafft war, reagierte umgehend. Er würde ihr das Blut abwischen, bevor sie weitermachten. Aber ansonsten war eigentlich nichts passiert.

Dieser Gedanke beruhigte ihn, aber plötzlich spannte sich etwas um seinen Hals und zog ihn nach hinten. Trotz seiner Körperfülle verlor er das Gleichgewicht und ging rücklings zu Boden. Grubb schnappte nach Luft und bekam keine. Etwas schnürte seinen Hals zu. Er griff danach und ertastete einen rissfesten Wundverband, der straff gespannt war und an dem jemand aus Leibeskräften zog. Und zwar von hinten. Unter seinem Rücken. Grubb stieß einen Ellenbogen nach unten und erntete ein ersticktes Stöhnen. Seine Lunge brannte und Sterne tanzten vor seinen Augen, aber das Stöhnen hatte sich gut angehört. Mit der Kraft eines Dampfhammers stieß Grubb den Ellenbogen erneut nach hinten und irgendetwas knackte vernehmlich. Der Zug um seinen Hals erschlaffte. Grubb atmete rasselnd ein und tastete an seinem Gürtel nach Ende. Die heutige Nacht war voller Überraschungen, aber er mochte keine Überraschungen. Es war Zeit, für Ordnung zu sorgen.