Die Inneren Wege, Kapitel 4
„Rasmus und die Gilde der Propheten“ ist eine vierbändige High‐Fantasy‐Serie. Der dritte Band, „Die Inneren Wege“, ist als Taschenbuch bei Amazon sowie als E-Book bei Kindle erhältlich.
Anbei findet sich das 4. Kapitel des Romans als Leseprobe.
Keshar
463 n.Z., erster Tag des Brachmondes
Am Tag des Brachfestes war selbst im Tempel der Totengöttin keine Ruhe zu finden. Unzählige Gläubige warteten vor den Opferstöcken, um die Göttin durch silberne oder goldene Gaben gnädig zu stimmen. Die Mönche, die gegen Bares Gebetstafeln und Opferkerzen fertigten, konnten sich vor Arbeitsaufträgen kaum retten. Danke Jaira, dass Du meinen Mann verschont hast. Dass Du meiner Mutter einen schmerzlosen Tod beschert hast. Sorge dafür, dass es meinem Mann bei den Windgöttern gut geht, meiner Frau, meinen Kindern. Wem auch immer.
Die Menschen nahmen den Tod viel zu wichtig. Wie so häufig murmelte Keshar die Worte des Langen Weges vor sich hin, fand jedoch keine Ruhe in der vertrauten Litanei. Pyr, der diensthabende Schlüssel des Hohen Sterns, hatte ihn grußlos alleine gelassen, nachdem Keshar sein Anliegen vorgebracht hatte. Bei den Schlüsseln des Hohen Sterns handelte es sich um Verdiente Wächter, die den Hohen Stern hermetisch abschirmten. Um überhaupt zum Obersten der Sternenwächter vorgelassen zu werden, musste jeder Bittsteller zunächst einen Schlüssel von der Dringlichkeit seines Anliegens überzeugen. Nach allem, was Keshar wusste, war kaum ein Anliegen dringend genug, dass der Hohe Stern ihm Aufmerksamkeit schenkte. Weder er selbst noch irgendein Sternenwächter, den er kannte – Chalane und die Hohen Wächter ausgenommen – hatte das Gildenoberhaupt jemals zu Gesicht bekommen. Erst seit es Chalane vor zwei Tagen in einem Nebensatz erwähnt hatte, wusste Keshar, dass es sich bei dem Hohen Stern um eine Frau handelte. Yaag hatte nie mehr über das Oberhaupt der Sternenwächter gesprochen, als nötig gewesen war. „Ich spreche mit der Stimme des Hohen Sterns“, war der einzige Satz gewesen, der Yaag zu diesem Thema zu entlocken gewesen war. „Das ist alles, was Du wissen musst, Junge.“
Ihr irrt Euch, Meister. Ich muss mehr wissen, viel mehr. Warum suche ich die Konfrontation mit Chalane, nur um einer Adligen willen, die ich überhaupt nicht kenne? Warum verleugne ich alles, was Ihr mich gelehrt habt, nur um ein Leben zu retten? Keshar hatte die Anweisung des Schlüssels befolgt, sich durch die Horden der Feiernden gekämpft und wartete nun seit einer geschlagenen Stunde untätig im Jairatempel. Auf den Opferwaagen, die man rund um die überdimensionale Jairastatue platziert hatte, stapelten sich die Opfergaben mittlerweile übermannshoch. Der blinde Totenwächter Parmyd, dessen steinernes Abbild jede Opferwaage zierte, würde heute nicht nur die Seelen der Toten wiegen.
„Der Tod ist unersättlich“, murmelte Keshar. Wer wusste das besser als ein Fallender Stern? In den vergangenen Jahren hatte sich Auftrag an Auftrag gereiht. Eine Kerze nach der anderen war vor den Augen des Assassinen am Altar der Göttin heruntergebrannt. Ich bin dieses Daseins müde, wurde ihm schlagartig bewusst. Die Intuition, aus der heraus er Lissa verschont hatte, ohne Auftrag in die Prophetengilde eingestiegen war und sich am heutigen Morgen schlussendlich gegen Chalane gestellt hatte, war nicht nur unausweichlich mit Stella di Celeste verknüpft – sie war ebenso Ausdruck einer tiefen Sehnsucht, die er sich nie eingestanden hatte. Ironischerweise hatte Yaag immer betont, welch zentrale Rolle die Intuition für einen Fallenden Stern spielte. Keshar hatte diese Aussage nie nachvollziehen können, sondern sein Handeln an handfesten Gründen ausgerichtet, wann immer es möglich gewesen war. Routen auskundschaften, Eventualitäten vorhersehen, Wege vorplanen, Alternativen durchdenken. Stella di Celeste hatte einen Stein ins Rollen gebracht, der nicht mehr aufzuhalten war. Er hatte genug von der Unersättlichkeit, genug von der Gleichgültigkeit, mit der Jaira nach immer neuen Leben griff, immer neue Kerzen auslöschte. Es gab keinen faktischen Grund, die junge Adlige zu beschützen, deren blauleuchtendes Gesicht er vor sich sah, wann immer er die Augen schloss. Er hatte keinerlei Erklärung dafür, warum sie am Leben bleiben musste und warum er so fest davon überzeugt war, das Richtige zu tun. Es wusste nur, dass es so war. Scheinbar hatte es einer Handvoll kruder Prophezeiungen und einer von Chalane ermordeten Adeptin bedurft, um ihn zu lehren, was sein Meister niemals vermocht hatte – seiner Intuition zu trauen.
„Störe ich?“ Eine barfüßige Tempeldienerin war zu ihm getreten, in das traditionelle Gewand der Dienerinnen Jairas gekleidet. Schwarze Hose mit goldenem Bund, ärmelloses Gewand, das Gesicht hinter einer Kapuze verborgen. Die offenen Arme blass, beinahe weiß.
„Seht Ihr nicht, dass ich bete?“, zischte Keshar ungehalten.
„Also habt Ihr nicht nach mir gerufen?“ Scheinbar arglos war sie bis auf Messerweite an ihn herangetreten.
Du bist ein Narr, Keshar. Schlagartig wurde ihm bewusst, wer sich hinter dieser Kapuze verbarg. „Wer seid Ihr?“, murmelte er, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Sie ließ sich neben ihm auf die Bank fallen. „Ich bin niemand, nur eine einfache Dienerin. Der Vollständigkeit halber mache ich Euch darauf aufmerksam, dass vier schussbereite Armbrüste auf Euch gerichtet sind, Fallender Stern. Pyr hat mir davon abgeraten, Eurem Anliegen Gehör zu schenken, aber ich war einfach zu neugierig.“ Sie lachte leise in sich hinein.
„Woher weiß ich, dass Ihr die Wahrheit sagt?“
„Seid kein Narr, Keshar. Pyr war sehr ungehalten über Eure Unverschämtheit. Ich weiß, wen Ihr gestern Nacht aus der Prophetengilde entführt habt. Ich weiß alles über das Weingut und den vermeintlichen Tod Eurer kleinen Sternenwächterfreundin. Wieviele Geschichten aus Eurem Leben wollt Ihr hören, Fallender Stern? Ihr seid derjenige, der eine Geschichte zu erzählen hat. Straft meinen Schlüssel Lügen und gebt diesem Gespräch einen Sinn. Meine Zeit ist kostbarer als die Eure!“
Mehr Beweis bedurfte es nicht. Keshar ergriff das Wort und brachte sein Anliegen vor. Nachdem er geendet hatte, schwieg sie für eine kleine Weile.
„Ihr wollt, dass ich die Adepten am Leben lasse? Dieser Wunsch wirft mehr als nur eine Frage auf, Fallender Stern. Wisst Ihr, über welche Kräfte diese Adepten vermögen? Wisst Ihr, was die Propheten mit ihnen anstellen werden, wenn sie die beiden in ihre Gewalt bekommen? Wer seid Ihr, dass Ihr Euch anmaßt, meine Entscheidungen zu korrigieren? Und wie wollt Ihr ein Fallender Stern sein, wenn Ihr Eure Aufträge nicht erfüllt, sondern stattdessen ihre Durchführung behindert?“
Ihre Fragen waren mehr als berechtigt. Während Keshar nach Antworten suchte, versuchte er, zu ergründen, welches Gesicht sich unter der Kapuze verbarg. Für einen Moment glaubte er, das Leuchten roter Augen unter dem grob gewebten Stoff wahrzunehmen.
„Erklärt mir, Keshar, wieso ich nicht jetzt und hier das Signal geben sollte, Euch zu erschießen“, flüsterte sie.
Er war in ernster Gefahr, erkannte Keshar. „Weil ich eine Waffe bin“, gab er ebenso leise zurück. „Weil Ihr Zeit und Geld investiert habt, um mich auszubilden. Weil Ihr mich gebrauchen wollt.“
„Welchen Sinn hat eine Waffe, die man nicht kontrollieren kann?“, antwortete die Frau, legte einen schlanken Arm um seinen Hals und begann, ihm den Nacken zu massieren. Es war durchaus üblich, dass Tempeldienerinnen gegen eine Opfergabe alle Arten von Diensten an den Gläubigen verrichteten, auch hier im Totentempel. „Was würdet Ihr an meiner Stelle tun, Fallender Stern? Würdet Ihr riskieren, dass sich Eure eigenen Waffen gegen Euch wenden?“
„Wenn Ihr an mir zweifelt … warum seid Ihr dann hierhergekommen?“
Ihr Griff tat gut. Mit überraschender Körperkraft fuhr sie durch seine verspannte Muskulatur. „Nun, ich wollte den Mann kennenlernen, auf den Yaag so große Stücke hält. Ich wollte herausfinden, ob Ihr verzweifelt genug seid, zu drohen. Das seid Ihr bislang nicht. Noch nicht.“
„Also werdet Ihr Eure Meinung nicht ändern“, stellte Keshar fest.
„Nein, und wieso sollte ich? Die Adepten sind nicht nur für die Sternenwächter, sondern für ganz Annstein eine Gefahr. Die Frage, die Euch beschäftigen sollte, ist nicht, ob ich das Leben der Adepten verschone. Die spannendere Frage ist, ob ich Euch das Leben lasse oder nicht, Fallender Stern. Was würdet Ihr mir raten?“ Sie knetete seine Schulterblätter und fuhr mit den Daumen an der Halswirbelsäule auf und ab.
Als ihre Hände in die Nähe seiner Umhangtaschen vordrangen, durchzuckte ihn eine Intuition. „Ich … habe da etwas für Euch“, raunte Keshar. „Etwas, das Euch interessieren wird.“ Nicht allzu überzeugend. Du klingst wie ein Händler auf dem Brachmarkt.
„Ihr wollt handeln?“ Sie lachte leise. „Womit, Fallender Stern? Mit Eurem Leben, was mir bereits gehört?“
„Ich verfüge über die Prophezeiungen des Essenzsehers“, log er. „Eine lückenlose Chronologie der letzten Wochen. Wenn Ihr ihn schon zu den Windgöttern senden wollt … habt Ihr dann wenigstens Interesse an seinem Vermächtnis?“
Mit gnadenloser Präzision drückte sie auf die Aufhängung seines Kopfgelenkes. Keshar stöhnte unwillkürlich auf. „Ihr habt Mut, so viel zumindest will ich Euch zugestehen. Möglicherweise wären die Prophezeiungen des Essenzsehers für mich von einem gewissen Interesse. Sprecht weiter, Fallender Stern. Was ist Euer Angebot?“
Falls seine Prophezeiungen für Euch von Interesse sind, warum wollt Ihr ihn dann töten? Er improvisierte weiter, folgte seiner Intuition. „Die gestrige Prophezeiung trage ich bei mir. Ich überlasse Euch diese zur Ansicht. Lest die Vision und prüft, ob sie einen Wert für Euch hat. Wenn Ihr dem Handel zustimmt, bringe ich Euch mehr Prophezeiungen … und Ihr verschont sein Leben. Seins, und das seiner Wahrträumerin.“
Sie verstärkte ihren Druck. Der Schmerz nahm zu. „Ihr enttäuscht mich, Keshar. Ein Fallender Stern, der um ein Leben bettelt?“
„Ich bettele nicht, ich handele“, erwiderte er.
„Und so werden wir wieder zu Handelsherren“, sagte sie leise. „Wir alle miteinander.“ Die vermeintliche Tempeldienerin lockerte ihren Griff und beugte sich so nahe zu ihm, dass ihre blassen Lippen sein Ohr beinahe berührten. „Gebt mir die Prophezeiung“, flüsterte sie. „Sofern sie mir von Nutzen ist, werde ich Euer Angebot überdenken!“ Sein Ohr brannte von ihrem mit Minze durchsetztem Atem. Für den Bruchteil einer Sekunde lugte eine Haarsträhne unter ihrer Kapuze hervor. Schneeweiß.
Ob des unverhofften Erfolges war Keshar beinahe ein wenig verblüfft. Er griff in seinen Umhang und reichte dem Hohen Stern eine von Marits Prophezeiungen, die ihm das Mädchen kurz vor seinem Tod zugesteckt hatte. Falls sie bemerkt, dass ich Prophezeiungen bei mir trage, die ich nicht aushändige, bin ich tot. Falls sie die Handschrift des Essenzsehers kennt, ebenso. Sein Gesicht blieb unbewegt, während die Weiße Frau beinahe gierig nach dem Pergament griff und es in einer der zahllosen Taschen ihres Gewandes verschwinden ließ.
„Wohin … äh … soll ich die restlichen Prophezeiungen bringen?“, hakte Keshar nach, sein Glück herausfordernd. „Und was wäre ein guter Zeitpunkt? Yaag erwartet viele Dinge von mir. Es könnte sein …“
„Yaag ist ein Narr“, flüsterte der Hohe Stern. „Wenn auch ein gefährlicher Narr. Ich werde das Brachfest an diesem Ort verbringen. Kehrt hierher zurück, noch vor Mittnacht, und bringt mir die restlichen Prophezeiungen. Ich werde sie prüfen, bevor ich über das Leben der Adepten entscheide.“
„Euer Wunsch ist mir Befehl … Totengöttin“, antwortete Keshar.
Sie funkelte ihn an. Dieses Mal war Keshar sich sicher, dass ihre Augen rot waren. Wortlos raffte die vermeintliche Tempeldienerin ihr Gewand und verließ seine Bankreihe. In anderen Bänken verrichteten Diener ihre Arbeiten und beteten mit den Gläubigen. Augenscheinlich hatte niemand von ihrem Gespräch Notiz genommen.
Keshar blieb für einige Minuten reglos in der Bank sitzen – davon überzeugt, dass der Hohe Stern ihn von einer Empore aus beobachtete. Seine Gedanken rasten. Rote Augen, schneeweißes Haar. Die Erkenntnis sprang ihn förmlich an, brandete über ihn hinweg, ließ ihn atemlos und erschüttert zurück. Er hatte diese Frau schon einmal gesehen, durch ein Guckloch in der Decke einer Schmiede beobachtet, in deren Dachstuhl er sich zusammen mit Chalane verborgen hatte. „Es ist nicht so einfach, eine Gilde auszulöschen“, hatte die Weißhaarige gemurmelt, nachdem Keshar dem Finger bis ins Handwerksviertel an der Küstenstraße gefolgt war. Die Runde, die sich dort in der Schmiede versammelt hatte, war ganz offensichtlich bedeutender gewesen, als Keshar geahnt hatte. Der Finger, der verrückte Schwertmeister, irgendein Inquisitor … und die Tempeldienerin, die keine war. Verrat. Verrat an der eigenen Gilde – durch den Hohen Stern persönlich.
Yaag musste davon erfahren. Der Hohe Stern würde ihn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit beschatten lassen, also galt es zunächst, eventuelle Verfolger abzuschütteln. Nun, zumindest dieses Vorhaben war einfach. Keshar lächelte grimmig, als er den Tempel verließ und den Ewigkeitsplatz überquerte. Nachdem er die Breite Straße hinter sich gelassen hatte, kletterte er behände auf das niedrige Dach eines Klostergebäudes. Außer Yaag wäre niemand in der Lage, ihm über die Dächer zu folgen, und selbst Yaag war nicht mehr der Jüngste.
Eine gute Stunde später ließ der Fallende Stern sich auf den Balkon seines Meisters herunter. Die Sonne stand hoch am Himmel und zwischendurch hatte es zur zwölften Stunde geschlagen. Falls der Hohe Stern sie nicht zurückgepfiffen hatte, würde Chalane die Jagd auf die Adepten eröffnet haben. Ob Lunia die beiden mittlerweile zu seinem sicheren Haus geführt hatte? Er konnte es nur hoffen. Chalane würde Lissas Kammer leer vorfinden, schlussfolgern, dass Keshar die beiden versteckt hielt, sich an seine Fersen heften und ihn zur Rede stellen. Nun, da musste sie sich noch ein Weilchen gedulden. Zuerst würde Yaag von dem Verrat des Hohen Sterns erfahren. So viel war Keshar seinem Meister schuldig. Seinem Meister, den Sternenwächtern und sich selbst.
„Du kannst reinkommen“, knurrte Yaag. „Chalane ist gegangen, kurz nachdem es Zwölf geschlagen hat.“
Der Wächter der Klinge erwartete ihn an einem Tisch, der für zwei Personen gedeckt war. „Um Deine Frage vorweg zu nehmen – auch heute habe ich nicht vor, Dich zu vergiften, Kesh“, brummte Yaag. „Chalane hat angekündigt, dass Du mich aufsuchen wirst. Sie wusste nur nicht, wann.“
Sie aßen Eintopf, tunkten Brot und tranken Ingwertee. Sein Meister machte keine Anstalten, das Wort zu ergreifen, und so aßen sie schweigend. Es würde das letzte Mal sein, dass sie zusammen essen würden. Nach dem heutigen Tag würde die Gilde der Sternenwächter eine andere sein, genauso wie Keshar ein anderer geworden war. Wie oft hatten Yaag und er an diesem Tisch gesessen und Aufträge diskutiert, Substanzen gefertigt oder über Annstein und die Republik philosophiert? Wie viele Kannen Ingwertee hatten sie gemeinsam geleert? Die Jahre der Ausbildung waren vorbei, endgültig, unwiderruflich.
„Jetzt darfst Du reden“, sagte Yaag und schob den leeren Teller von sich.
Keshar begann seine Erzählung mit der Bitte von Chalane, ihm bei der Entführung der Adepten behilflich zu sein. Er berichtete von Nalissas Kammer, dem Mord an der dritten Adeptin, seiner Auseinandersetzung mit Chalane, der willkommenen Unterbrechung durch Donnie und dem anschließenden Besuch beim Hohen Stern. Er erwähnte, dass er Rasmus und Stella versteckt hielt … verschwieg aber, wo genau. Er rekapitulierte das Gespräch in der Schmiede und erläuterte seine ungeheuerliche Schlussfolgerung: Der Hohe Stern, die Handelsherren und die Prophetengilde hatten einen Pakt zur Vernichtung der Sternenwächter geschlossen. Als Keshar seinen Bericht beendete, schlugen die Glocken der Zwillingstürme zur zweiten Stunde des Nachmittags.
Da Yaag keine Anstalten machte, das Schweigen zu brechen, ergriff Keshar nach einer Weile erneut das Wort. „Gestattet mir eine letzte Frage, Meister“, fügte er hinzu. „Habt Ihr Donnie wirklich in Nalissas Kammer geschickt?“
Noch immer schwieg Yaag, seinen Schüler unter schweren Lidern musternd. „Woher kanntet Ihr Chalanes Aufenthaltsort?“, fuhr Keshar fort, beinahe erschrocken über die eigene Kühnheit.
„Genug!“ Wie eine Peitsche durchschnitt die Stimme seines Meisters die Stille. Yaag wurde so gut wie niemals laut – wenn er dann aber doch einmal die Stimme erhob, war diese in weitem Umkreis deutlich zu vernehmen. „Das ist genug!“, wiederholte Yaag. „Du musst nicht alles wissen, Junge. Ich habe meine Mittel und Wege. Das sollte Dir genügen!“ Sein Meister zog einen eisernen Dolch und begann, die dreckverkrusteten Fingernägel zu säubern. Keshar, dem die Zurechtweisung noch immer in den Ohren hallte, schwieg und wartete geduldig darauf, dass sein Meister erneut das Wort ergriff.
„Es passt alles zusammen“, sagte Yaag endlich. „Der Hohe Stern kehrt zu seinen Ursprüngen zurück. Die Sternenwächter haben ihre Schuldigkeit getan. Das Spielzeug hat seinen Reiz verloren und die Weiße Frau flüchtet in die goldenen Arme des Kraken. Was sie ihr wohl geboten haben mögen? Den Titel einer Herrin der Nacht? Die Vollmachten einer Obersten Handelsherrin in Annstein?“ Nachdenklich wog Yaag den Dolch in der rechten Hand. „Chalane hat ein anderes Lied gesungen, mein Junge, aber ich vermute schon länger, dass jemand anderes ihre Lieder komponiert. Dein Verdacht deckt sich mit dem meinen. Wir sind viel zu oft an empfindlichen Stellen getroffen worden. Der Hohe Stern ist nicht greifbar für die Hohen Wächter, umgibt sich mit mehr und mehr Schlüsseln, weicht jeder unbequemen Entscheidung aus. Im Tagesgeschäft sind wir bereits seit Ewigkeiten auf uns allein gestellt. Xervor und Silk bedrängen mich seit Wochen, etwas zu unternehmen. Wohin hat sie Dich vorgeladen, Junge? In den Tempel der Totengöttin?“
„In den Tempel der Totengöttin“, bekräftigte Keshar.
„Das passt zu ihr. Vermutlich hält sie sich für Jairas was-weiß-ich wievielte Inkarnation. Ich möchte wetten, dass sie diesen Ort mit Absicht gewählt und bei der bevorstehenden Säuberung des Hoffends ihre Finger im Spiel hat. Kennst Du ihre Pläne, Junge? Hat sie weitere Schritte für den heutigen Tag angekündigt?“
„Nein“, gab Keshar zu. „Aber Chalane weiß möglicherweise mehr.“
„Chalane ist die Kreatur des Hohen Sterns“, erwiderte sein Meister. „Wenn sie ohne meine Duldung, ja sogar ohne mein Wissen in die Prophetengilde einsteigt und Adepten entführt, werde ich sie bei dieser Sache sicherlich nicht mit ins Boot nehmen.“
„Was habt Ihr vor, Meister?“
„Wir werden dem Hohen Stern einen Besuch abstatten. Xervor, Silk, Du und ich. Alles, was die Sternenwächter noch zu bieten haben. Die Hohen Wächter, endlich wieder vereint!“ Yaag grunzte etwas Unverständliches vor sich hin. „Die anderen Fragen können warten, mein Junge. Dein fortwährender Ungehorsam. Deine Rolle bei der Entführung der Adepten, auch wenn es sich herausstellen mag, dass Du richtig gehandelt hast. Wenn der Hohe Stern die beiden tot sehen will, ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Hohen Wächter sie lebend bevorzugen. Wo hältst Du sie versteckt?“
Keshar antwortete nicht. Yaag, der mittlerweile aufgestanden war, rotierte den Dolch geistesabwesend mit der rechten Hand, während er langsam auf und ab ging.
„Junge?“, wiederholte sein Lehrer.
„Ihr müsst nicht alles wissen, Meister“, sagte Keshar leise. „Ich habe meine Mittel und Wege. Das sollte Euch genügen!“
Yaag hielt für einen Moment inne, musterte seinen Schüler mit reglosem Blick. Dann begann er, zu lachen. „Vermutlich habe ich diese Retourkutsche verdient, nicht wahr?“
Keshar, inständig hoffend, dass er sein Glück nicht überstrapaziert hatte, antwortete nicht. Yaag begann erneut, auf und ab zu wandern. „Wir reden später über Deine Adepten. Als erstes lasse ich Xervor und Silk rufen. Du wiederholst Deine Beobachtungen und Deine Schlussfolgerung. Wir spazieren in den Totentempel und stellen dem Hohen Stern ein paar Fragen. Wie sieht es aus, mein Junge … wirst Du uns begleiten?“
Keshar schwieg. Da war er. Der letzte Auftrag. Die eine Sache, die er Yaag, der Gilde und sich selbst schuldig war.
„Das ist ein Auftrag, der Deiner würdig ist, Junge. Nicht irgendjemand. Nein, der verdammte Hohe Stern persönlich!“ Yaag stand vor ihm, bot ihm das Heft des eisernen Dolches dar und musterte ihn aus unergründlichen Augen.
Leuchte ohne mich, Sonne. Der Stern muss fallen. Nur noch dieses eine Mal.
„Ich diene und gehorche, Meister“, entgegnete Keshar.
„Das tust Du, Keshar“, antwortete Yaag. „Das tust Du.“
Mit einem Mal fühlte Keshar sich unendlich müde.
„Du bleibst hier bei mir“, entgegnete Yaag, als ob er seine Gedanken gelesen hätte. „Es wird eine Weile dauern, bis Xervor und Silk ihre Leute mobilisiert haben. Gönn‘ Dir ein wenig Schlaf, Junge. Du siehst furchtbar aus!“
Ich diene und gehorche, Meister.
Er streckte sich auf der steinernen Bank aus und war innerhalb von Sekunden eingeschlafen.