Die Innersten Wege, Prolog
„Rasmus und die Gilde der Propheten“ ist eine vierbändige High‐Fantasy‐Serie. Der vierte und letzte Band, „Die Innersten Wege“, ist als Taschenbuch bei Amazon sowie als E-Book bei Kindle erhältlich.
Anbei findet sich der Prolog des Romans als Leseprobe.
Prolog
463 n.Z., zweiter Tag des Erntemondes
„Wnnn!“, bat er mit zittriger Stimme. „Wnnn!“
„Mehr Wein? Seid Ihr sicher, Herr?“ Das Gesicht seines Leibdieners schälte sich aus dem Nebel, griff nach der elegant geschwungenen Karaffe und schenkte Redaner nach. „Ihr solltet nicht so viel trinken, Herr“, mahnte Lestoras, während er den Rand eines Glases zwischen die Lippen des ehemaligen Generals hielt.
Träge wie Öl rann die süße Flüssigkeit seine Kehle hinunter. Der Bezwinger der Yverlinger schluckte, hustete, schluckte erneut. Das Blut der Götter, das ihm Vergessen bescherte und ihn schlafen ließ. Schlafen und träumen … von einer Zeit, als er noch ein Mensch aus Fleisch und Blut gewesen war. Keine geflüsterte Legende, kein Schatten, kein Relikt aus einer längst versunkenen Vergangenheit.
An den Sitzungen des Siebenerrates nahm er nicht mehr teil. Die Tage, in denen Bewaffnete seinen hölzernen Rollstuhl in den kleinen Ratssaal gefahren hatten, damit der General den selbstherrlichen Ausführungen der Wahrmeister folgen durfte, lagen endlos lange zurück. Der Siebenerrat schien seines militärischen Sachverstandes nicht mehr zu bedürfen. Das Herz der Annsteiner Republik, aus ihm selbst, den Wahrmeistern Jovan, Kylia und Jhor, den adeligen Speichelleckern di Viscandi und di Saronte sowie dem durch permanente Abwesenheit glänzenden Handelsherr Vissentine bestehend, war sich seit dem Brachfest in nahezu allen Themen einig. Der General war entbehrlich, nur noch geduldet, hinter seinem Rücken belächelt. Eine geflüsterte Legende, ein Schatten, ein Relikt aus einer längst versunkenen Vergangenheit.
Die Republik von Ann wuchs und gedieh. Nach dem blutigen Scharmützel und der darauffolgenden Wiedereingliederung der geschlagenen Republik Süd-Ann hatte der Siebenerrat die Baumaßnahmen im sogenannten Wahrviertel – dem ehemaligen Hoffend – zügig vorangetrieben. Die Handwerksgilden der Stadt arbeiteten Hand in Hand und die Stimmung in der Bevölkerung war prächtig. Die Annsteiner Winzer kelterten einen hervorragenden Jahrgang, der den Handel mit dem kürzlich befriedeten Süden florieren ließ. Die Septen der Armee patrouillierten auf den Handelsstraßen, und solange der Weg eines Reisenden nicht ausgerechnet gen Osten in die Kupferhügel führte, war die Chance, dass er sein Ziel wohlbehalten und unversehrt erreichte, so groß wie lange nicht mehr.
Diese verfluchten Kupferhügel. Verdrießlich starrte Leutner das Gemälde an, das ihn selbst überlebensgroß auf einem Pferderücken darstellte. Das östlich an die Republik angrenzende Großherzogtum Lombria hatte die ohnehin spärlichen Truppen an die Südgrenze abkommandiert, um den sarrantischen Invasoren Einhalt zu gebieten, die ihre Chance witterten, dem ewigen Rivalen ein paar Morgen Land abzutrotzen. Sah denn niemand außer ihm, was diese Truppenverschiebung bewirkte? Sicherlich hatten sich die Kupferhügel wieder in den Hort von Banditen verwandelt, der sie gewesen waren, bevor Leutner eingegriffen hatte. Nach dem Siebenjährigen Krieg, den der General durch den Sturm von Brinn beendet hatte, hatten die Kupferhügel einige friedvolle Jahre erlebt. Die Republik hatte die stillgelegten Bergwerke wieder in Betrieb genommen und der Handel hatte floriert. Falls Leutners Vorhersage zutraf, war diese kurze Blütezeit mittlerweile vorbei, endgültig und unwiederbringlich. Eine geflüsterte Legende, ein Schatten, ein Relikt aus einer längst versunkenen Vergangenheit.
Unter dem strengen Blick seines berittenen Abbildes kämpfte Leutner vergeblich mit dem angereichten Wein. Redaner rann über das fliehende Kinn, tropfte auf die Uniform, die er sogar im Rollstuhl trug, hinterließ eine klebrige Schicht auf den emaillierten Ordensplaketten, die seine Schultern zierten. Lestoras setzte das Glas ab und tupfte mit einer Serviette an ihm herum. Leutner stöhnte unwillig. „Wnnn!“, befahl er erneut. „Wnnn!“
„Ihr hattet genug, Herr“, beschied ihn sein Leibdiener. „Ihr solltet jetzt ruhen. Wartet, ich bringe Euch …“ Lestoras unterbrach sich und rümpfte die Nase. „… eine frische Windel“, fuhr der Diener fort. „Und danach geht es ins Bett!“
General Leutner, der Bezwinger der Yverlinger, hatte längst aufgehört, die Tage zu zählen, in denen er mittlerweile an den Rollstuhl gefesselt war. Eine Krankheit, gegen die kein Kraut gewachsen zu sein schien, hatte zuerst seine Beweglichkeit und dann seine Würde geraubt. Leutner hatte mehrfach versucht, sich in eigener Kraft aus dem Rollstuhl zu stürzen, um dieses ganz und gar unwürdige Leben zu beenden und sich zu seinen Kameraden zu gesellen, die bei den Windgöttern auf ihn warteten. Mittlerweile war er selbst dazu nicht mehr in der Lage. Seitdem der General sich bei seinem letzten selbstverursachten Sturz lediglich ein paar blaue Flecken zugezogen hatte, banden die Diener ihn am Rollstuhl fest, bevor sie ihn transportierten. Es war demütigend, ebenso wie die Windeln, ebenso wie der Wein.
Der Lähmung zum Trotz hatte Leutner für lange Zeit mehr als nur eine Symbolfigur dargestellt. So hatte der greise General die Personalentscheidungen, die seine Nachfolge geregelt hatten, noch mit eigener Hand getroffen. Dank seines ungetrübten militärischen Sachverstandes hatte er seine Nachfolger vom Rollstuhl aus beraten und dem Siebenerrat berichten können, hatte über politische Entwicklungen gegrübelt und die Züge seiner Feinde vorausgesehen, wie er es immer getan hatte. Erst seit einigen Wochen hatte er sich vollständig in die eigenen Räumlichkeiten zurückgezogen, seine Verwandlung endgültig vollzogen. Die Verwandlung in eine geflüsterte Legende, einen Schatten, ein Relikt aus einer längst versunkenen Vergangenheit.
Eine letzte Reise lag noch vor ihm … die Reise zu den Windgöttern. Längst hätte der General diese angetreten, wäre da nicht der Mann gewesen, der in der Gestalt eines Raben seine Träume beherrschte. Der Mann, gegen dessen Stimme es kein Aufbegehren gab. Der Mann, den der ehemalige General vor nicht allzu langer Zeit noch mit animalischer Inbrunst gehasst hatte. Mittlerweile war Hass nur eine verschwommene Erinnerung, ein Wort bar jeden Gefühls. Die Stimme von Wahrmeister Jovan dämpfte jede Empfindung, ließ Farben ausbleichen und Vergangenes im Nebel verblassen.
Nutzlos baumelten seine Gliedmaßen am Körper, während er in den Armen seines Leibdieners ruhte und vergeblich versuchte, die altersfleckige Hand zu bewegen. Seine tauben Finger erwachten nur noch zum Leben, wenn Wahrmeister Jovan ihnen befahl, ein Pergament zu unterzeichnen. Er ahnte, dass alleine diese Unterschriften der Grund waren, warum Jovan ihn am Leben hielt. Seht her, General, krächzte der Rabe in seinen Gedanken. Ich bin nicht nur Herr über Euer Leben. Ich bin ebenso Herr über Euren Tod.
Sein Diener bettete und entkleidete ihn, säuberte seinen Leib und legte mit geübten Griffen eine Windel an. Im Anschluss gab Lestoras keine Ruhe, bis es ihm gelungen war, seinem Herrn einige Schlucke dünnen Bieres einzuflößen. Endlich entzündete der Diener die Nachtlampe, während der General ermattet die Augen schloss. Leutner bestand darauf, dass die Lampe die ganze Nacht brannte. Das Licht half ihm, zu sich zu finden, wenn der Rabe ihn verließ und er den Träumen entkam, ohne Orientierung, in grauer Bewegungslosigkeit fixiert. Die Welt jenseits des Lichtkegels war nah und gleichzeitig weit weg, unerreichbar, bedeutungslos. Es gab nichts mehr zu verlieren, niemanden mehr zu bekämpfen, nichts mehr zu erobern. Der General hatte die Kupferhügel befriedet und Brinn im Sturm erobert, aber seinen letzten Kampf konnte er nicht gewinnen. Den Kampf gegen den Raben. Den Kampf um sein Leben. Den Kampf um seinen Tod.
In manchen Nächten war der Rabe weit weg, nur ein kleiner Punkt am Himmel. In diesen Nächten gehörten Leutners Träume ihm allein, die immer gleichen Träume von der immer gleichen Schlacht. Vom Rand der Hochebene, auf der die Generalität Quartier bezogen hatte, konnte er die weitläufige Ebene überblicken, die zur Stadt hin leicht abfiel und sich mehrere Meilen bis vor die mächtigen Mauern erstreckte. Meldeläufer wuselten wie Ameisen den Hang herauf und herunter. Das Brausen der Schlacht zwischen den Truppen der Republik und den aufständischen Lombrianern war selbst über diese Entfernung hinweg deutlich hörbar. Der General spürte den Wind im Gesicht und lauschte den eilig heruntergebeteten Berichten über die Manöver seiner Truppen. Er bellte Befehle, die das entfernte Geschrei der Sieger, der Besiegten, der Sterbenden und der Überlebenden mühelos übertönten. Während sich der blutrote Himmel über dem Schlachtfeld verdunkelte, traf er die Entscheidung, für die er geboren wurde. Er ließ die Reserve antreten, setzte sich selbst an die Spitze, galoppierte im verlöschenden Schein der Abendsonne den Hang herunter und ging in die Geschichte ein. General Leutner, Bezwinger der Yverlinger, Befrieder von Lombrien, Befreier von Brinn.
Noch während er in vollem Ritt auf die feindlichen Truppen zuhielt, manövrierte Oberst Breuer das Pferd an seine Seite, beugte sich herüber und rüttelte an seiner Schulter. „Herr?“, brüllte der Oberst über den Lärm hinweg. „Herr? Ist alles in Ordnung?“
Er stöhnte und versuchte, die Hand des Oberst abzuschütteln. Vergeblich. Er konnte die Schultern nicht bewegen, die Hand nicht heben. Er konnte sich noch nicht einmal wegdrehen und den Blick abwenden.
„Herr!“, brüllte der Oberst unbarmherzig. „Herr!“
„Mmh“, brummte der General und kehrte unwillig in die Gegenwart zurück. Die Nachtlampe brannte mit unverminderter Helligkeit. Sein Leibdiener hatte sich über ihn gebeugt und rüttelte an seiner Schulter. „Herr!“, wiederholte der Leibdiener. „Ist alles in Ordnung? Ihr habt gestöhnt, lauter als sonst. Und … äh … Ihr habt Besuch, Herr.“
„Mmh“, murmelte er gleichgültig.
„Eine Vernische Schwester will Euch sprechen. Sie hat eine Einladung mit Eurem Siegel vorgezeigt. Ich habe das Siegel geprüft, und, nun … es scheint echt zu sein, Herr. Ich habe der Dame mitgeteilt, dass Ihr ruht. Sie hat darauf bestanden, dass es wichtig ist. Also habe ich ihr angeboten, zu warten.“
Der General schwieg und starrte die gläserne Nachtlampe an, die ein warmes gelbes Licht verströmte. Der ölgetränkte Docht brannte ruhig und stetig. Der Schatten seines Dieners tanzte an der Wand seiner Kammer, überragte die Figuren auf den Gemälden, zerschnitt die Harmonie des Lichtkegels, der ihn umgab. „Was soll ich tun, Herr?“, fuhr Lestoras fort. „Soll ich sie hereinbitten?“
Leutner hätte schweigen können. Es wäre so einfach gewesen, zu schweigen. „Mmh“, stöhnte er stattdessen.
Der Diener nickte gehorsam. „Sehr wohl, Herr. Ich führe die Vernische Schwester zu Euch. Soll ich … soll ich Euch aufhelfen?“
Schweigen.
„Wie Ihr wünscht, Herr.“ Sein Leibdiener verließ ihn und kehrte mit einer in Weiß gekleideten Frau zurück, die sich lautlos auf der Bettkante niederließ, die gefalteten Hände im Schoß verbergend. Die Besucherin trug die traditionelle Ordenshaube der Vernischen Schwestern und verbarg das Gesicht hinter einem Schleier.
„General Leutner“, murmelte die Schwester mit deutlich hörbarem sarrantischem Akzent. „Es ist mir eine Freude, Euch kennenzulernen.“
Erinnerungen durchzuckten ihn, trieben an die Oberfläche, versanken im Nebel. Die Gesichtszüge der Frau, die ihr Leben der Göttin der Reinheit gewidmet hatte, waren hinter dem Schleier nicht zu erkennen. Die Hände waren feingliedrig, leicht gebräunt. Ein schlanker Hals lugte unter dem seidenen Stoff hervor, der nach Rosen duftete. Ihr Dialekt passt zur Hautfarbe, entschied Leutner, der sich beinahe sicher war, dass sich unter dem weißen Ordensgewand ein überaus ansehnlicher Körper verbarg. Der Körper einer Sarrantinerin, die sieben Riten der Schwestern beherrschend, jahrelang darin unterwiesen, bis zur Perfektion eingeübt. Bilder kehrten zurück, blitzartig, unerwartet. Der Ritus der Reinheit, der Ritus der Selbstaufgabe. Er sah sich selbst im Tempel der Göttin, nackt, dampfend vom heißen Bad. Beinahe konnte er die Hände spüren, die duftende Öle in seinen Rücken massierten. Ein Meer von Kerzen, seidene Schleier, weiße Laken. Er hatte es geliebt, mit den Vernischen Schwestern zur Göttin der Reinheit zu beten, einmal, zweimal, viele Male. In der Welt jenseits des Lichtkegels war er ein gläubiger Mann gewesen, weitaus mehr als eine Legende, ein Schatten, ein Relikt aus einer längst versunkenen Vergangenheit.
„Soll ich … soll ich mich zurückziehen, Herr?“ Der Leibdiener wartete am Fußende seines Bettes.
„Mmh“, bestätigte der General.
„Falls Ihr etwas benötigt … ich werde Euch hören, Herr. Ihr wisst, wo …“
„Mmh“, wiederholte Leutner ungeduldig.
Lestoras verschwand im Nebenzimmer, die Türe geräuschlos hinter sich zuziehend. Die Vernische Schwester, noch immer sittsam auf seiner Bettkante sitzend, summte vor sich hin. Eine kleine Weile verging.
„Wnnn“, murmelte General Leutner.
„Wnnn?“, erwiderte die Vernische Schwester mit fragendem Unterton. Unter dem Schleier erhaschte der reglose General einen Blick auf ihre zusammengekniffenen Mundwinkel. „Was bedeutet das?“
„Wnnn.“
„Ihr könnt nicht sprechen, oder?“, stellte die Vernische Schwester fest.
„Mmh“, bestätigte Leutner. Als junger Offizier hatte er die Frauen gewechselt wie andere die Hemden. Mit dem Mund war er ebenso flink gewesen wie mit den Händen. Wortduelle mit übertriebenen Komplimenten, vulgären Beleidigungen, geschrien oder gemurmelt. Begonnene Sätze, in einem Stöhnen versiegend. Ein weiteres Schlachtfeld, das er virtuos beherrscht hatte. Das Schlachtfeld zwischen den Laken.
„Ich kann eine Vernische Schwester sein, wenn Ihr es wünscht“, fuhr die Besucherin fort. „Meine Herrin wusste, dass ich mit dieser Kleidung keinen Verdacht errege.“
Er schwieg. Intuitiv fühlte er, dass die Frau sowieso weiterreden würde.
„Jede Herrin des Feuers beherrscht die sieben Riten der Schwestern. Im Lodernden Tempel lernen wir, jemand anderes zu sein. Wir können in die Rolle einer Adligen oder in die einer Soldatenhure schlüpfen. Wir können Bauersfrau sein, Priesterin oder Vernische Schwester. Unsere Ausbildung ist einzigartig in den Mittlanden … falls wir sie überleben. Es ist nicht einfach, eine Herrin des Feuers zu werden, wisst Ihr, General?“
Der Schatten der Fremden tanzte über ihm. „Mmh!“, murmelte General Leutner.
„Ich hatte sämtliche Hürden überwunden“, setzte die Schwester ihre Erzählung fort. „Die Prüfungen mit Bravour bestanden, eine glänzende Zukunft vor mir. Ich war die jüngste Herrin der Glut seit Beginn der Aufzeichnungen, eine Berühmtheit in Sarrantis. Meine Partner haben hohe Beträge für mich bezahlt. Ich habe meiner Gilde Ehre bereitet, ebenso wie Ihr der Euren.“
Sie starrte in die Ferne, während sie sprach. Irgendwohin, weit weg von hier. „Und dann endete es, einfach so“, fügte sie leise hinzu. „In Annstein versprach ein Herr der Nacht einem Wahrmeister neunundvierzig Handelsherren als Geschenk. Der Rang spielte keine Rolle, also wurde der geringstmögliche Rang einberufen. Neunundvierzig Herren der Asche wurden gesucht, aber nur sechsundvierzig hörten den Ruf. Am Ende wurde aufgefüllt. Mit entbehrlichem Material … mit frisch beförderten Herrinnen der Glut aus dem Lodernden Tempel. Es kann der Moral der Truppe nicht schaden, mögen sie sich gedacht haben. Die Neunundvierzig haben eine lange Reise vor sich. Wenn das Feuer niedergebrannt ist, kann ein Mann sehr einsam sein. Was läge da näher, als das Feuer wieder zu entfachen? Entfachen zu lassen?“
Der ehemalige General spürte die Bitterkeit, die sich hinter den Worten verbarg. Vergeblich versuchte er, die rechte Hand zu bewegen. Die Hand, die nur durch ein einziges Wort des Raben eine Feder halten und einen lang gezogenen Strich unter Pergamente setzen konnte, die seine Diener im Anschluss mit seinem Siegel versahen und in die Welt außerhalb des Lichtkegels brachten. „Mmh“, stöhnte er und stellte sich vor, wie es sein mochte, ihr Hinterteil zu berühren. „Mmh!“
Die Frau senkte das Haupt. Ihr Blick, noch immer hinter dem Schleier verborgen, ruhte auf seinem reglosen Körper. „Meine Herrin hat mir befohlen, Euch zu ehren“, sagte sie und löste die Schnüre der Ordenshaube. „Sie ist eine weise Frau. Weiser, als ich es verdiene.“
Der Schleier fiel. Das Gesicht der Frau war eine entstellte Ruine. Wulstige Narben verliefen quer über Nase und Wangen. Die rechte Seite der Lippe fehlte, die Wimpern ebenso. Bis weit hinter das rechte Ohr war die Frau kahl. Auf der linken Seite des Schädels spross kurzgeschorenes schwarzes Haar.
„Seht mich an“, befahl die Frau. „Seht, was sie getan haben.“ Sie legte Ober- und Untergewand ab, bot dem gelben Licht der Nachtlampe ihren nackten Körper dar. Reglos starrte der General auf den schlanken Hals, die wohlgeformten Brüste, das Dreieck zwischen ihren Schenkeln … und auf das zerstörte Gesicht. Brandwunden, erkannte er mit geübtem Blick. Nicht tödlich, aber entstellend. Die Narben schienen auf eine grausame Art und Weise fehl am Platz, gehörten nicht zu diesem perfekten Körper, nicht in dieses Zimmer, nicht in den Lichtkegel, den die noch immer ruhig brennende Nachtlampe warf. „Mmh?“, flüsterte der General.
„Ich weiß, was Ihr denkt“, fuhr die Frau fort. „Ihr wünscht, dass ich den Schleier anlege, wollt die Vernische Schwester wieder zurück. Ihr werdet sie nicht erhalten, fürchte ich.“ Sie schwang ein glattrasiertes Bein über seinen Körper, wodurch ihr Hinterteil nun auf seinem Becken thronte. Ihre Brüste wippten über seinem Gesicht auf und ab. „Seht mich an!“, befahl sie.
Er gehorchte, betrachtete die Symphonie ihrer Gliedmaßen, roch ihren Duft. Als sie sich nach vorne beugte, fiel eine Träne auf seine Haut. In den grauen Augen, die jetzt ganz nah über den seinen schwebten, erkannte er Angst, Hass und Mitleid. Ganz schwach war ihm bewusst, dass sie nicht hier war, um ihn zu zerstreuen, dass sie jemandem diente, der über sein Siegel verfügte … aber all das spielte keine Rolle mehr. General Leutner verspürte keine Furcht, keine Erwartung, keine Angst und keine Hoffnung.
„Mmh“, stöhnte er.
„Ich schenke Euch meinen Körper“, verkündete die Sarrantinerin, die über ihm thronte. „Meinen Körper und meine Geschichte. Neunundvierzig Herren der Asche wurden gesucht, aber nur sechsundvierzig hörten den Ruf. Die Gilde der Handelsherren hat den Trupp mit drei Herrinnen der Glut aufgefüllt, und eine davon war ich. Wir studieren die Wege der Glut, der Flammen, der Brise und des Sturmes, General. Die Riten der Vernischen Schwester beherrschen wir ebenso wie die Disziplinen des Jadeflusses. Ich habe bei der Lady Akaiha gelernt, der letzten lebenden Seidendame des höchsten Grades, der Meisterin aller fünf Disziplinen des Jadeflusses. Glaubt mir, General … ich habe eine hervorragende Ausbildung genossen. Ich war bereit. Bereit für den Weg des Feuers.“
Wie in Trance wiegte die Frau sich hin und her. Ihr Schatten tanzte auf den Wandgemälden, die Szenen aus seinem Leben zeigen. Ihre Schenkel umschlossen die wollene Windel, übten einen sanften, fordernden Druck auf sein Gesäß aus. „Drei Herrinnen der Glut wurden nach Annstein geschickt, damit die Herren der Nacht ihr Versprechen wahrmachen und neunundvierzig ausgebildete Handelsherren entsenden konnten. Nur eine Herrin der Glut ist in Annstein angekommen. Eine einzige, mit entstelltem Gesicht, die Schmerzen durch Schattenmilch betäubt.“
Ihre Worte waren bedeutungslos, plätscherten sanft auf ihn ein. „Mmh“, murmelte General Leutner und genoss die Wärme ihres Hinterteils. Die Augen fielen ihm zu.
Unvermittelt spürte er ihren Atem in seinem Ohr. „Öffnet die Augen, General. Seht mir ins Gesicht. Ich will, dass Ihr mein Gesicht seht.“
Gehorsam befolgte er ihre Anweisung. Jetzt, wo er die Narben ein zweites Mal betrachtete, empfand er sie nicht mehr als störend. Narben lügen nicht, erinnerte er sich an eine Wahrheit aus seinem früheren Leben. Narben sind ehrlich. Narben sind Siege.
Noch immer thronte die nackte Frau über ihm, eine Symphonie aus Rundungen und Narben, die grauen Augen weit in die Ferne gerichtet. „Es waren keine Wildtiere, die mein Leben zerstört haben, General. Keine Söldner, keine Wegelagerer. Nur Herren der Asche, die ihre Grenzen nicht kannten.“ Ihre Stimme wurde leise, tonloser. „Iljena hat sich verweigert. Wir waren für die Wahrmeister bestimmt, nicht für jedermann. Sie haben sie gezwungen. Sie haben sie gegen ihren Willen genommen, gegen den Willen der Götter, gegen alle Lehren des Lodernden Tempels. Iljena hat geschrien. Sie haben sie geschlagen. Wieder und immer wieder. Ich habe … ich … konnte nicht …“
Sie brach mitten im Satz ab. „Mmh“, spornte er sie an. Eine Ahnung keimte in ihm auf, eine Ahnung des herannahenden Endes. Lange herbeigesehnt, süß, verheißungsvoll.
„Ihr hättet meine Haare sehen sollen“, flüsterte sie. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Niemals geschnitten, glatt und makellos. Wenn ich sie geölt habe, schimmerten sie im Kerzenlicht. Männer sind zu mir gekommen, nur um meine Haare zu sehen, um sie zu fühlen.“ Sie hielt inne, schien sich zu sammeln. „Auf der Königsstraße hat meine Spange das Gesicht des Mannes zerschnitten, der Iljena geschlagen hat. Er hat sich gewehrt, hat mit der Lampe nach mir geschlagen, nach meinem Gesicht. Er hat nur eine Narbe davongetragen. Ich hingegen … ich …“
Sie begann, zu weinen. Ihre Tränen tropften auf seine altersfleckigen Wangen, auf sein Kissen, auf die wollene Decke, in die Lestoras ihn gebettet hatte. Er betrachtete ihr Gesicht, die entstellten Züge, hörte auf das Schluchzen, das sich ihrer Kehle entrang. Es erschien ihm ehrlich, so ehrlich wie das Leben selbst. Ehrlich und wunderschön.
Nach einer Zeit gewann sie ihre Beherrschung zurück, streichelte zärtlich sein Ohrläppchen, löste die Schnüre seiner Windel. Sie liebkoste sein schlaffes Glied, setzte sogar ihre Zunge ein … aber General Leutner spürte nichts, empfand nichts. Der Nebel war stärker geworden, dichter, undurchdringlicher. Irgendwo in weiter Ferne merkte der Rabe auf, lauschte, forschte nach … und wurde abgelenkt. Zu viele Bälle, mit denen er jonglieren musste. Zu viele Themen, zu viele Notwendigkeiten.
Endlich gab die Sarrantinerin auf, bedeckte hastig ihre Blöße, kleidete sich wieder an. „Ihr seht, was aus mir geworden ist, General. Eine Herrin der Glut, die es noch nicht einmal mehr vermag, einen Helden zu ehren. Vergebt meine Ungehörigkeit. Meine Herrin hat mir befohlen, Euch ein Geschenk zu machen, bevor sie das ihre überbringt.“ Sie zog die Haube auf, knotete die rituellen Schnüre. Das entstellte Gesicht verschwand hinter dem seidenen Schleier. „Die Vernische Schwester ist zurück“, stellte sie fest. „Ist das der Anblick, den Ihr sehen möchtet, wenn es endet?“
„Mmh“, brummte General Leutner durch den Nebel hindurch. Kein Begehren, keine Angst. Nur eine dumpfe Erwartung.
„Meine Herrin lässt ausrichten, dass Ihr Eurer Republik treu gedient habt, weit über Eure Jahre hinaus. Den Platz im Webmuster der Schicksalsgöttinnen habt Ihr Euch redlich verdient. Euren Lebensfaden wird man noch nach Jahrhunderten betrachten, besingen, bewundern. Strategen werden Eure Schlachten nachstellen und Gelehrte über Eure Taten nachsinnen, über Euer Leben, Eure Strategien … nicht aber über Euren Tod. Er ist in seinem Bett gestorben, wird es heißen. Friedlich eingeschlafen, nach einem langen und erfüllten Leben.“
Die Nachtlampe flackerte. Die Vernische Schwester griff nach einem Kissen und drückte es auf seinen Mund, seine Nase. General Leutner rang vergeblich nach Luft. Die Frau beugte sich über ihn und flüsterte unverständliche Silben in sein Ohr. Der Rabe, am Firmament von Leutners Bewusstsein kreisend, spürte das unvermittelte Aufwallen von Gefühlen, widmete dem General seine Aufmerksamkeit und erstarrte. Die Angst des Raben prasselte auf den Bezwinger der Yverlinger ein, gepaart mit Schrecken und Wut … doch der General wischte den Aufruhr in seinem Inneren entschlossen beiseite. Während sich der blutrote Himmel über dem Schlachtfeld seines Lebens verdunkelte, ließ General Leutner die Reserve antreten, setzte sich an ihre Spitze und eilte im verlöschenden Schein der Abendsonne den Hang herunter, um in die Geschichte einzugehen.
„Salea“, flüsterte seine Mörderin. „Wenn der Steinerne Gott einen Namen wünscht … sagt ihm, dass es Salea war, die Euch zu ihm geschickt hat. Salea, die einst eine Herrin der Glut war.“
Der General fühlte, wie der Rabe aufgab, wie er sich abschirmte. Mit blendender Klarheit empfand er, wie das Band zu dem Mann, den er hasste, innerhalb eines Lidschlags verblasste und verblich. Der Nebel, der sich über seine Gedanken und Erinnerungen gelegt hatte, wich einem nahezu übersinnlichen Glanz. Während er vergeblich nach Luft rang, war der General für einige letzte Augenblicke Herr seiner Sinne, Herr seines Körpers. Die Lippen seiner Mörderin brannten heiß an seinem Ohr. Obwohl seine Brust in Flammen stand und die Schmerzen schier unerträglich waren, erschien ihm die Berührung ihres Mundes an seinem Ohr intensiver als jede andere, die er zuvor verspürt hatte. Das letzte, was er empfand, war ein wildes Triumphgefühl.
Mit der Gewissheit, dem selbsternannten Wahrbringer am Ende doch noch eine Niederlage zugefügt zu haben, begann General Leutner, Bezwinger der Yverlinger, Befrieder von Lombrien und Befreier von Brinn, den langen Weg zu den Windgöttern.