Die Tiefen Wege, Kapitel 18

HomeSwitcherDieTiefenWege„Rasmus und die Gilde der Propheten“ ist eine vierbändige High‐Fantasy‐Serie. Der zweite Band, „Die Tiefen Wege“, ist als Taschenbuch bei Amazon sowie als E-Book bei Kindle erhältlich.

Anbei findet sich das 18. Kapitel des Romans als Leseprobe.

 

 

 

 

 


Jemand

463 n.Z., siebenundzwanzigster Tag des Langmondes

Die Dunkelheit war sein Freund. Er starrte an die Decke und hörte auf die Melodie, die in seinem Kopf tanzte. Er wusste nicht, wo er war, aber er war in Sicherheit, und nur das zählte. Ein Zimmer, ein Bett, eine Matratze, die nach Salz und Meer roch. Die heißen Tage waren lang, und die warmen Nächte waren kurz. Er durchwachte die Nächte und verschlief die Tage. Die Dunkelheit war seine Decke, seine Zuflucht, sein Freund. Licht war gefährlich. Die Sonne war gefährlich. Licht brannte. Licht verbrannte.

Es war still in seinem Zimmer. Wann immer die Stille ihn umfing und vereinnahmte, begann er, die Melodie zu summen. Er schlief ein und erwachte, und wann immer er erwachte, war die Welt vertraut und doch fremd. Ein Zimmer, ein Bett, eine Matratze, die nach Salz und Meer roch. Die Melodie gab ihm Halt. Sie gab ihm Bestand. Sie erzählte eine Geschichte, die nur er verstand. Eine Geschichte von der Welt außerhalb dieses Zimmers. Außerhalb dieses Bettes. Jenseits dieser Matratze.

Männer und Frauen, die ihm fremd waren, fütterten ihn mit hölzernen Löffeln. Er aß Brei. Er trank süße Milch. Als er das erste Mal mit der Zunge über seine zertrümmerten Zähne fuhr, stellte er fest, dass er durch die Löcher pfeifen konnte. Er pfiff. Eine Geschichte. Eine Geschichte von der Welt außerhalb dieses Zimmers.

„Wer bist Du?“, fragte er den Jungen eines Tages.

„Du weißt, wer ich bin“, antwortete der Junge. „Verdammt, Flemming, wie oft willst Du mich noch fragen?“

Er wusste nicht, was der Junge damit meinte. „Feuerkopf?“, fragte er prüfend.

„Ich bin nicht Feuerkopf“, antwortete der Junge und schluchzte. Die Lüge war offensichtlich, denn der Junge trug das Feuer mit sich. Jede Geste, jedes Wort und jedes rote Haar gab ein beredtes Zeugnis davon. „Ich bin niemand“, sagte der Junge. „Vier Jahre lang war ich ein Sternenwächter. Zwei Tage lang war ich ein Papiermacherlehrling. Heute bin ich niemand. Und ich pflege einen Barden, der nicht weiß, wer er ist.“ Die Hand mit dem Breilöffel zitterte. Gehorsam öffnete Flemming den Mund. Flemming. Der Junge hatte ihm einen Namen gegeben, und der Name gefiel ihm. Er ließ den Brei durch seine zerstörten Zähne gleiten und schluckte. „Feuerkopf“, sagte er und lächelte. Die Augen des Jungen weiteten sich. Das taten sie immer, wenn er lächelte.

„Du sollst mich nicht Feuerkopf nennen, Flem! Ich bin Nale, verdammt! Nale, der Papiermacherlehrling!“

„Nale“, sagte er gehorsam. Er wusste, dass das nicht der richtige Name des Jungen war. Der Junge spielte ein Spiel, dessen Regeln er nicht verstand, aber das machte nichts. Er hatte Zeit und er hatte Geduld. Er würde gerne mitspielen. Erneut summte er die Melodie. Die Melodie des Flusses. Es war der Fluss, der ihm diese Melodie geschenkt hatte, begriff er. Der Fluss, der ihn hierher getragen hatte.

„Deine Zähne sehen fürchterlich aus“, sagte der Junge. „Ich weiß nicht, ob Du je wieder Flöte spielen können wirst. Was hat dieses Arschloch Dir angetan?“

Die Stimme des Jungen war zu tief. Flemming variierte die Tonhöhe, bis das Lied wieder passte.

„Ich wusste immer, dass Kesh eine Gefahr für sich und andere darstellt“, sagte Feuerkopf wie zu sich selbst. „Ich glaube, dass es genau diese Gefahr ist, die mich an ihm fasziniert hat.“

Flemming lächelte und summte. Auch der Fluss konnte eine Gefahr sein. Oft war er träge und schwer von der Last, die er mit sich tragen musste. Aber er konnte auch schnell und reißend sein. Scharf wie ein Schwert, und klar wie ein Wintermorgen nach einer kalten Nacht. Er variierte den Rhythmus der Melodie und wob ein hektisches Stakkato hinein.

„Verdammt, kannst Du nicht einmal still sein, Flem? Sobald ich aufhöre, Brei in Dich hineinzustopfen, pfeifst Du vor Dich hin!“ Der Junge hielt inne. „Oh. Ich weiß, was Dir fehlt. Eigentlich hätte ich auch von alleine darauf kommen können.“ Er verließ das Zimmer.

Er schlief ein und erwachte. Die Welt war vertraut und doch fremd. Ein Zimmer, ein Bett, eine Matratze, die nach Salz und Meer roch. Er begann, eine Melodie zu summen. Die Melodie gab ihm Halt. Sie gab ihm Bestand. Sie erzählte eine Geschichte, die nur er verstand. Eine Geschichte von der Welt außerhalb dieses Zimmers. Außerhalb dieses Bettes. Jenseits dieser Matratze. Er schlief erneut ein. Erwacht erneut. In einer fremden und doch vertrauten Welt.

Ein Junge betrat das Zimmer. Ein Junge mit feuerroten Haaren. „Ich habe Dir etwas mitgebracht“, sagte der Junge und warf ein Paket auf das Bett. „Ich musste bis Annstein reisen, um eine zu finden, und ich habe sie noch nicht einmal gestohlen! Ich habe sie verdammt nochmal gekauft!“ Der Junge lachte bitter. „Eigentlich dachte ich, dass ich sie mir gar nicht leisten könnte. Zum Glück hat die Kauffrau beide Augen zugedrückt, als ich ihr erzählt habe, dass es sich um eine Notlage handelt! Ich musste nur drei Silbergroschen bezahlen ‐ und ein paar Tropfen Blut. Fantastisch, oder?“

Er wusste nicht, wovon der Junge sprach. Ratlos besah er das Paket in seinen Händen. „Nun mach es schon auf, Flem!“, sagte der Junge. „Es wird Dir gefallen, das weiß ich!“

Gehorsam wickelte er das Papier auseinander. „Rat mal, wo das Papier hergestellt wird!“, sagte der Junge, wartete seine Antwort aber nicht ab, sondern fuhr einfach fort, zu reden. „Bei Meister Matura natürlich. Meinem Meister, wenn es nach Kesh gegangen wäre. Vielleicht wäre ich sogar dort geblieben, wenn Du nicht wie üblich alles über den Haufen geworfen hättest. Es ist ziemlich spannend, ein Mann zu sein, verdammt!“

Er hörte dem Jungen nicht mehr zu. Verzückt starrte er auf den Inhalt des Paketes. Eine Flöte. Der Junge hatte ihm eine Flöte gebracht. Ein einfaches hölzernes Instrument, aber mehr als ausreichend. Das kostbarste Geschenk, das er jemals erhalten hatte. Wie von selbst fanden seine Finger die Grifflöcher und er setzte das Instrument an. Wenn er die Luft über den Gaumen abstieß und seine Zungentechnik anpasste, würde er trotz der zerschlagenen Zähne spielen können. Er blies einen ersten Ton. Dann einen zweiten. Dann spielte er die Melodie. Die Melodie des Flusses.

„Oh, Flemming! Du kannst es noch!“, sagte der Junge und nickte. Dann wurde er still und hörte eine Weile zu. Tränen stahlen sich in seine Augen, während die Melodie ein Eigenleben entwickelte und durch den Raum tanzte. Träge und schwer. Schnell und reißend. Er spielte für den Fluss. Er spielte für die Sonne, den Mond und die Sterne. Männer und Frauen betraten das Zimmer, während er spielte. Alle trugen dasselbe sackartige Gewand wie er. Der einzige, der andere Kleidung trug, war der Junge. Der Junge, der das Feuer war und mit jeder Geste, jedem Wort und jedem roten Haar davon kündete. Er veränderte Rhythmus und Tonlage, um die Melodie von dem Feuer erzählen zu lassen. Wie es brannte. Wie es verbrannte. Eine unerklärliche Angst stieg in ihm auf, und er begann, zu zittern. Die Melodie brach ab, und er verstummte. Ein Dutzend Menschen standen um ihn herum. Niemand sagte ein Wort.

„Flemming, oh Flemming!“, sagte der Junge mit dem Feuerkopf. „Das war … ergreifend! Ich habe noch nie so etwas Großartiges gehört!“

Er wusste nicht, von wem der Junge sprach. Aber der Name gefiel ihm. „Flemming“, sagte er leise und lächelte. Die Menschen sahen ihn mitleidig an. Dabei gab es keinerlei Grund, traurig zu sein. Jeder musste doch sehen, dass der Junge ein Segen für ihn war. Er hatte ihm eine Flöte gebracht, und jetzt brachte er ihm auch noch einen Namen. „Flemming“, sagte er erneut.

„Das war wunderschön“, sagte eine ältere Frau. „Annaia hat Euch reich beschenkt, Fremder!“

„Er ist kein Fremder“, widersprach der Junge. „Ich weiß, wer er ist, Schwester Annagrit! Flemming Flinkfinger, ein Barde aus Annstein!“

„Mein Name ist Allagried … und Ihr wisst nicht, wer er ist. Ihr wisst lediglich, wer er zuvor war“, widersprach die Frau sanft. „Niemand weiß, zu wem Annaia ihn gemacht hat.“ Die Menschen zerstreuten sich. Nur der Junge blieb zurück und schluchzte. Ein Mann brachte einen geschmacklosen Brei und süße Milch. Der Junge trocknete seine Tränen, fütterte ihn und redete auf ihn ein. Kratzig und knarrend, manchmal tief, manchmal ins Falsett umschlagend. Wenn er weinte, klang er wie eine Frau.

„Morgen ist Brachfest“, sagte der Junge leise. „Morgen ist Brachfest, und ich werde nicht dabei sein!“

Er wusste nicht, was das Brachfest war. Aber die Stimme des Jungen war voller Bedauern, und er wollte nicht, dass er traurig war. Er schluckte den Brei herunter und ordnete seine Gedanken. „Warum geht Ihr nicht hin, wenn Euch so viel daran liegt?“, fragte er. „Feste muss man feiern, wie sie fallen!“

„Ich wünschte, ich könnte es, Flem. Aber Nalissa ist tot und muss tot bleiben. Kesh hatte schon recht.“

„Nalissa?“, fragte er. Der Name brachte eine Seite in ihm zum Klingen. Es kam ihm vor, als hätte er jemanden dieses Namens gekannt. Prüfend wiederholte er den Namen ein paar Mal. Man konnte ihn beinahe singen. „Nalissa, Nalissa, Nalissa“, sagte er. „Ein schöner Name.“

Der Junge schaute ihn beinahe zärtlich an. „Nale“, korrigierte er ihn. „Hier bin ich Nale. Das ist der Name, den Du Dir merken solltest, Flem.“

Nale war kein Name. Nale war kein Lied und kein Bild. Flemming schüttelte den Kopf und sperrte gehorsam den Mund auf, als der Junge einen weiteren Löffel Brei zu seinem Mund führte. „Wenn Du Flöte spielen kannst, solltest Du eigentlich auch alleine essen können“, sagte der Junge mehr zu sich selbst. „Wir werden mal prüfen, was Du so alles wieder kannst, Flem.“

Der Tag verging ereignislos. Sich schwer auf den Jungen stützend, schaffte er es, von seinem Lager aufzustehen und das Zimmer für eine kleine Weile zu verlassen. Vorsichtig setzte er Schritt um Schritt und sog die Farben und Gerüche der Welt gierig ein. Überall um ihn herum hörte er Lieder. Seine Schritte schlurften einen Takt. Der Junge, der auf ihn einredete, umspielte diesen Takt mit Variationen eines immer gleichen Themas. Er summte eine Basslinie dazu.

Der Junge führte ihn zum Fluss. „Schau, die Ann!“, sagte er und deutete auf die rotbraunen Fluten, die träge dahinströmten. Zwei Männer in Kutten schichteten Treibholz zu einem übermannsgroßen Turm. „Das Brachfeuer“, erklärte der Junge. „Hier feiern sie das Brachfest bereits am Vorabend des Brachmondes. Einen Tag früher als in Annstein. Frag mich nicht, wieso. Glaubst Du, Du hältst es hier aus, bis die Sonne untergeht, Flem?“

Ja. Oh ja. Und wie er es aushalten würde. Der Fluss sprach zu ihm, und Flemming starrte fasziniert in die wogenden Wassermassen. Der Fluss sprach vom Vergehen und neu anfangen. Er sprach von der Unberührtheit der Quelle, der Rastlosigkeit einer langen Reise und der Sehnsucht nach dem großen grauen Meer. Flemming fühlte diese Sehnsucht tief in seinem Inneren. In seinem Kopf formte sich bereits eine Melodie. Der Junge redete auf ihn ein, aber er hörte ihn gar nicht. Als der Junge ihn schließlich verließ, drückte er Flemming die hölzerne Flöte in die Hand. Er war dankbar, dass der Junge sie mitgenommen hatte. Er setzte sie an und spielte das Lied des Flusses. Für den Fluss. Für sich selbst. Für die Sterne, den Mond und das Meer.

Gegen Abend trafen zahlreiche andere Menschen ein, Männer wie Frauen. Alle trugen dasselbe geflochtene Gewand wie er. Feuer wurden entzündet, Speisen wurden zubereitet und Getränke verteilt. Der Junge brachte einen zarten Fisch und einen Becher mit einer streng riechenden Flüssigkeit. Flemming probierte und trank in gierigen Schlucken. Nie zuvor hatte er etwas derart Köstliches getrunken. Das war etwas anderes als die süße Milch, die der Junge ihm heute Morgen gebracht hatte.

„Dir schmeckt das Zeug?“, fragte der Junge verwundert, als Flemming nach einem zweiten Becher verlangte.

„Es schmeckt nach dem Fluss. Es schmeckt nach Leben“, erwiderte Flemming.

„Das ist Wein, gekeltert aus zuckerhaltigem Tang. Nach meinem Empfinden schmeckt er eher nach Scheiße als nach irgendetwas anderem.“ Der Junge lachte. „Du wirst hier noch zu einem richtigen Annaia‐Mönch, Flem. Warte, ich hole Dir noch einen.“ Der Junge brachte einen zweiten Becher. Flemming trank und fühlte, wie das Leben des Flusses sich in seinem Magen und in seinen Adern ausbreitete. Er fühlte sich lebendig wie nie zuvor.

Die Mönche stimmten einen Gesang an, dessen einfaches Thema wieder und wiederkehrte. Bald schon stimmte Flemming mit ein. Aus voller Kehle sang er mit den Menschen um ihn herum, und der Junge mit dem Feuerkopf schaute ihn verwundert an. „Dir geht es mit jedem Tag besser“, stellte er fest. „Es ist, als ob Du vor meinen Augen gesundest. Oh, Flemming. Ich bin so froh, dass er Dich nicht umgebracht hat! Dass ich Dich nicht … verkauft habe!“ Erneut füllten seine Augen sich mit Tränen, und der Junge schluchzte.

Als das Lied der Mönche verklang, hielt eine ältere Frau eine Rede. Danach entzündeten zwei Männer den riesigen Treibholzstapel. Der Junge lehnte den Kopf an seine Schulter und starrte in die Flammen. „Schau, Flemming. Unser Brachfeuer“, sagte der Junge. „Lassen wir die Geister der Vergangenheit ruhen. Fangen wir noch einmal ganz von vorne an. Was meinst Du?“

Flemming antwortete nicht. Das Holz musste schon seit Tagen in der Sonne getrocknet worden sein, denn die Flammen fanden rasch Nahrung und breiteten sich gierig aus. Höher und höher loderte das Brachfeuer, und gelborange Hitze strömte in wabernden Wellen auf ihn zu. Er wurde unruhig. Irgendetwas regte sich in seinem Unterbewusstsein, und er griff nach der Hand des Jungen und klammerte sich daran fest. Der Junge erwiderte den Griff und lächelte ihm zu.

Flemming konnte das Lächeln nicht erwidern. Schweiß trat auf seine Stirn, und es war nicht die Hitze des Feuers, die dafür verantwortlich war. Bilder traten vor seine Augen, und er wusste nicht, wo diese Bilder herkamen. Sterne, die von einem schwarzen Himmel fielen. Ein Glatzkopf mit einem schwarzen Schnauzbart, der eine Treppe herunter polterte. Ein Mann mit dem Gesicht eines Totenschädels, der einen Dolch nach ihm warf, der in seiner Schulter steckenblieb. Er meinte, den Schmerz fast körperlich zu spüren.

„Lass mich los, Flemming. Aua, Du tust mir weh!“

Eine Kammer, in der er gelegen und gefiebert hatte. Eine Frau mit rostfarbenem Haar, die ihm zu trinken gegeben hatte und ihn nachdenklich gemustert hatte, ein Messer in der rechten Hand. Stundenlang. Nächtelang. Eine halbe Ewigkeit. Er hörte eine Flöte, die das Crescendo irgendeines Liedes spielte. Ein ohrenbetäubendes Knacken, und ein Teil eines künstlichen Sternenhimmels fiel herab und verfehlte ihn nur um Haaresbreite. Flammen loderten aus dem Raum oberhalb der Zimmerdecke.

„Flem, verdammt nochmal! Was hast Du denn?“

Flackerndes Licht. Die Dunkelheit war von flackerndem Licht erhellt. Alles um ihn herum brannte, und die Schreie, die zu hören waren, hatten nichts Menschliches mehr an sich. Der Dolch steckte noch immer in seiner Schulter und seine rechte Seite war blutüberströmt. In heller Panik sprang er auf und zeigte mit zitterndem Finger in das gleißende Licht des Feuers. Jemand versuchte, ihn zurückzuhalten, aber er nahm all seine kümmerliche Kraft zusammen, riss sich los und stolperte in die Dunkelheit. Er wusste, dass sie ihn verfolgen würden, und er wusste auch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie ihn eingeholt hätten. In seinem Zustand konnte er ihnen unmöglich entkommen. Er brauchte Hilfe. Er brauchte Heilung. Er wollte nicht sterben.

Jemand lief ihm nach und schrie seinen Namen. Er torkelte, rannte, stolperte und schlug der Länge nach hin. Jemand hob ihn auf und redete auf ihn ein. Angsterfüllt wimmerte er und schlug um sich wie ein verwundetes Tier. Jemand hielt ihn fest und nahm ihn in den Arm. Jemand summte eine Melodie. Die Melodie des Flusses. Träge und schwer, schnell und reißend. Der Junge wiegte ihn in seinen Armen, und langsam beruhigte er sich. Nach einer Weile führte der Junge ihn zu seiner Kammer. In die Sicherheit. In die Dunkelheit. Weg von den Flammen, weg von dem Licht. Licht war gefährlich. Licht brannte. Licht verbrannte.

Der Junge warf ihn auf das Bett und legte sein Wams ab. Während er fortfuhr, sich zu entkleiden, blieb Flemming reglos liegen und stöhnte nur leise. Seine neu gewonnene Kraft war aus ihm herausgeströmt wie aus einem lecken Eimer. Der Junge legte seine Unterkleidung ab und nestelte an einem Tuch herum, das er um den Oberkörper geschlungen hatte. Ein Paar wohlgeformter Brüste kam zum Vorschein, und splitterfasernackt durchquerte der Junge den Raum und legte sich zu ihm. Der Junge, der kein Junge war. „Feuerkopf?“, fragte Flemming ungläubig. „Du bist …“

„Sssch“, flüsterte das Mädchen. „Es ist gut. Alles ist gut.“

Er war das Wasser, und sie war das Feuer. Sie liebten sich für den Fluss, den Mond, die Sterne und das Meer. Sie liebten sich für die Ewigkeit. Er löschte ihre Glut mit seinen Fluten, und sie stöhnte kehlig auf. Träge und schwer, schnell und reißend. Lodernd und verbrennend. Quelle und Mündung, Anfang und Ende, Asche und Staub. Hungrig küssten sie sich, als wäre es das letzte Mal. Das erste Mal. Das einzige Mal.

Als er viel später erwachte, lag ihr Kopf auf seiner Brust. Es war dunkel in seinem Zimmer, und für eine lange Zeit lauschte er auf ihre regelmäßigen Atemzüge. Mit weit offenen Augen starrte er an die Decke und hörte auf die Melodie, die in seinem Kopf tanzte. Er wusste nicht, wo er war, aber er war in Sicherheit, und nur das zählte. Ein Zimmer, ein Bett, eine Matratze, die nach Salz und Meer roch. Und sie. Das Mädchen mit den rostroten Haaren. Er wusste nicht, wer sie war, aber er wusste, dass er ihr vertrauen konnte. Er hatte ihr immer vertraut. Er griff nach ihrer Hand, und er hörte, wie sie etwas murmelte, sich an ihn schmiegte und seinen Griff im Schlaf erwiderte. Ihre Hand gab ihm Halt. Sie gab ihm Bestand. Sie erzählte eine Geschichte, die nur er verstand. Eine Geschichte von der Welt außerhalb dieses Zimmers. Außerhalb dieses Bettes. Jenseits dieser Matratze.