Marie, Kapitel 1

„Marie“ ist eine in der nahen Zukunft spielende Groteske. Der Roman wurde im Jahr 2015 geschrieben, zwischen 2016 und 2017 von Tobias Rothenbücher lektoriert und wurde schließlich im Oktober 2017 auf Amazon als Taschenbuch und als eBook veröffentlicht.

Anbei findet sich das erste Kapitel des Romans als Leseprobe.


Freitag, 08. Dezember 2023

Die Kinder unter ihren Nikolausmützen sangen tapfer gegen den Nieselregen an. Das Scheppern des E-Pianos übertönte die vielstimmige Darbietung und vermischte sich mit dem Brummen der Boxen zu einem dumpfen Inferno. Als die kleine Chorleiterin sich auf die Zehenspitzen stellte und „Vielen Dank, liebe Eltern!“ brüllte, ertönte eine schrille Rückkopplung.

Dicht an dicht unter der Plane des Glühweinstandes zusammengepfercht, spendeten die Angesprochenen trotzig Applaus. Jo wandte sich ab und hastete weiter – wohlwissend, dass ihn am anderen Ende des Offenbacher Weihnachtsmarktes ein ähnliches Schicksal erwartete. Fatih Özer, Mitinhaber der Werbeagentur „Lorem Ipsum“ und Jos direkter Vorgesetzter, hatte zur Weihnachtsfeier in die „Pyramidenhütte“ geladen. Das Display der iEye5-Plus-Linsen, das Jo halbtransparent über sein Gesichtsfeld gelegt hatte, zeigte exakt zwanzig Uhr. Die erste Stunde der Feierlichkeiten hatte er erfolgreich versäumt. Ein schwacher Trost. Aber immerhin.

Lorem Ipsum war an zwei Standorten aktiv. In Düsseldorf saßen Geschäftsleitung, Account-Planner, Texter und Vertriebler. Offenbach war für Grafik und Lifecloud zuständig; insbesondere das Design maßgeschneiderter iRooms gehörte zu den Aufgaben, auf die Jos Standort sich spezialisiert hatte. Sein Team hatte die Visualisierung des bärtigen Burger-Meisters übernommen, der die Gäste der gleichnamigen Fastfood-Kette bei der Wahl eines geeigneten Burgers beriet. Zudem hatte Jo Ideen in Düsseldorf platziert, die ihm fette Provisionen eingebracht hatten. Sein Geniestreich mit dem pseudoschwäbischen Gebrabbel hatte den Absatz des völlig geschmacklosen Vorderthaler Müslis beinahe verdoppelt. Die Personalisierung der Werbestrategien für Nerzbank und E.OF hatte die Sympathiewerte der Konzerne messbar verbessert. Es erfüllte ihn noch immer mit tiefer Befriedigung, dem Geschwafel der Blondinen mit den Jogginganzügen zu lauschen, die in den Spots der nachahmenden Banken und Energieversorger von Strategien und Visionen fabulierten. Ein erfolgreiches Jahr neigte sich dem Ende zu. Außer einer letzten Kleinigkeit – dem Prototyp für das „Land des Lächelns“ – stand in 2023 nichts mehr an. Er würde die mit Dauerbaustellen gepflasterte A3 nicht vermissen. Noch zwei Tage … und dann Urlaub. Endlich. Es wurde höchste Zeit.

Jo seufzte, schlug den Kragen hoch und kämpfte sich durch lärmende Jugendliche mit Migrationshintergrund in Richtung Frankfurter Straße. „Jede Stadt kriegt den Weihnachtsmarkt, den sie verdient“, murmelte er vor sich hin, während er eine Mandelbar, eine Maronihütte und einen vor sich hin qualmenden Schwenkgrill passierte. Zwischen der „Weltweit einzigartigen Feuerzangenbowle“ und „Swobodas Suppenspezialitäten“ warben ungefähr ein Dutzend Schilder für das im warmen Wind schlackernde beheizte Festzelt. Die wenigen Buden, die weder Speisen noch Getränke verkauften, markierte Jo durch einen Klick mit dem rechten Zeigefinger auf dem linken Handrücken. Er war bei rekordverdächtigen vier angelangt, als er die Weihnachtspyramide erreichte. Ein Kerzenhaus. Ein Kinderkarussell. Kunsthandwerk aus dem Erzgebirge. Und total flauschige Lammfelle. Jo straffte sich. Bringen wir es hinter uns. Er öffnete die Tür der Pyramidenhütte, die kaum Platz für zehn Personen bot.

„Seht mal, wer da kommt!“

„Wir sind komplett!“

„Halloo Jooo!“

Wie Hühner auf der Stange drängten sich seine Kollegen auf den schmalen Brauereibänken. Anton, ganz in Schwarz, neben dem schmächtigen Necip. Boris, die Nase knallrot, redete auf den zu Boden starrenden Informatiker Stefan ein. Annemarie, laut lachend, eingekeilt zwischen dem Creative Director Malte und Rieke, der guten Seele vom Empfang. Lene, seine Ex, hatte einen Platz freigehalten und fügte ein zweites, schüchternes „Halloo Jooo!“ hinzu.

„Jo! Mann, wo warst du die ganze Zeit?“ Fatih, weißes Hemd unter dem schwarzen Wollpulli aus dem Viking-Store, winkte Jo an die Theke und schob ihm dampfende Motto-Tassen rüber. Dieses Jahr hatte sich das Stadtmarketing richtig ins Zeug gelegt. Über dem von überdimensionalen Weihnachtsbäumen eingerahmten Büsing-Palais schwenkte ein grinsender Engel eine OFC-Fahne. Das Motto des Weihnachtsmarktes – „Willkommen daheim“ – prangte in einer Sprechblase über der surrealen Szenerie.

„Nix verschütten! Das ist das gute Zeug! Mit Schuss!“ Fatih deutete mit einem Kopfnicken auf die billigen Keramiktassen. „Wo hast du so lange gesteckt?“

„Noch was vorbereiten. Für das Land des Lächelns“, entgegnete Jo abwesend. Zwei Hände für acht Tassen. Dieser Balanceakt erforderte seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Scheiß auf das Land des Lächelns! Heute wird gefeiert!“

Jo erreichte den Brauereitisch, ohne seine hochprozentige Fracht zu verschütten. Unter großem Hallo verteilte er die Tassen und ließ sich ächzend neben Lene auf die Bank fallen. „Hi! Was hab ich verpasst?“

„Halloo Jooo! Och, nichts! Wir haben uns nur warmgetrunken!“ Die rotwangige Frau mit der Bommelmütze, mit der Jo beinahe zwei Monate lang Tisch und Bett geteilt hatte, hob ihre Tasse und prostete ihm zu.

Jo tat es ihr gleich und nahm einen tiefen Zug. „Ah! Fuck!“

Lene grinste und blies in den kochend heißen Glühwein. Jo tat es ihr gleich. „Hab mich verbrannt“, murmelte er verlegen.

„Geschieht dir recht!“, kommentierte Lene. Dann schwiegen beide.

Fatih begann seine jährliche Ansprache. „Wir sind komplett! Herzlich willkommen, ihr Lieben! Lorem Ipsum ist stolz auf euch, wisst ihr das? Zwodreiundzwanzig war ein geiles Jahr … und zwar wegen euch! Nur wegen euch! Wir werden das Ergebnis aus Zwozwoundzwanzig noch toppen, und wenn das nicht krass geil ist, dann weiß ich aber auch nicht. Ist das geil? Ist das krass geil oder was?“

Jo hatte nie verstanden, wie der Inhaber einer Agentur, die immerhin in der obersten Etage des Citytowers logierte, das Wort „geil“ so inflationär benutzen konnte wie Fatih. „Und weil das Jahr so krass geil gelaufen ist“, fuhr Fatih fort, „haben wir uns dieses Jahr was ganz Besonderes ausgedacht. Hier kommt der Weihnachtsmann, ihr Lieben! Haha!“

Fatih ließ einen Korb mit kleinen weißen Paketen herumgehen. Da sich niemand die Mühe gemacht hatte, die Geschenke zu verpacken, war das Logo mit dem angebissenen Wikingerschild deutlich zu erkennen. Wie jedes Jahr verschenkte „Lorem Ipsum“ das jeweils aktuellste Viking-Produkt – vollkommen überteuerte iEye-Datenlinsen, nach guter alter Tradition in Kalifornien designt und in China produziert. Die nunmehr veraltete Variante „5-Plus“, die Jo treue Dienste geleistet hatte, wurde im Viking-Shop noch immer für fast neuntausend D-Mark gelistet.

Auch wenn die Überraschung sich in Grenzen hielt, hatte das Geschenk in seinen Händen einen Wert von mehr als zwölftausend D-Mark. Mit erhobener Tasse prostete Jo seinem Chef zu, der die Erfolge des Jahres 2023 in einem weitschweifigen Monolog Revue passieren ließ. Malte, der Creative Director, erwiderte den Toast und beugte sich zu Jo hinüber.

„Ein iEye6-Plus! Krass geil, oder?“

„Krass geil. Und voll die Überraschung“, brummte Jo.

„Immer wieder aufs Neue. Weißt du eigentlich, was der Unterschied zwischen dem 5-Plus und dem 6-Plus ist?“

Vorsichtig blies Jo in seinen Glühwein. „Keine Ahnung. Sag’s mir.“

„Die Größe, sonst nichts! Das iEye6-Plus ist um 30 Prozent größer. Die Nutzer brauchen eine Mindest-Diameterzahl, um die Linse einsetzen zu können.“

„Du verarschst mich.“

„Nein, echt! Wegen der HHD-Auflösung. Hast du nicht das Testimonial gesehen, in dem Pete Brett den Schritt zu HHD ausführlich begründet?“

„Ich hatte keine Zeit für Testimonials, sorry. Weißt du, was bei mir in den letzten Wochen abgegangen ist?“

„Dann weißt du auch nicht, wen sie für die deutsche 6-Plus–Kampagne engagiert haben?“

Jo nippte an seinem Glühwein und schüttelte stumm den Kopf.

„Mahmoud Mösil! Geil, oder?“, brüllte Malte quer über den Tisch.

„Den Schauspieler?“, mischte Lene sich ein.

„Genau den! Hammer, oder?“

„Na, dem passen die Dinger wenigstens.“

„Als Fußballer hat er mir besser gefallen“, versuchte Jo, etwas zur Konversation beizutragen.

„Der war in den entscheidenden Spielen doch immer unsichtbar!“, hielt Malte dagegen. „Bei der WM 2014 war er mit Abstand schlechtester Deutscher!“

„Beim Tatort ist er genauso schlecht“, lästerte Lene. „Mösil nuschelt schlimmer als vorher Tschiller. Erinnert ihr euch an die Folge mit dem cracksüchtigen IS-Terroristen und dem gestohlenen Plutoniumkoffer?“

„Das war die Folge, wo Hamburg sich den Leichenrekord wiedergeholt hat, oder?“, überlegte Malte. „Die mit den 3600 Toten!“

„Wenn man die halbe Million mit den Spätfolgen dazu zählt, werden sie den Rekord auch so schnell nicht los! Auf die Idee, Bremen mit Plutonium zu verseuchen, muss man erstmal kommen!“

Jo ließ die Kollegen diskutieren und widmete sich dem mittlerweile trinkbaren Glühwein. Fatih war immer noch mit seinem Jahresabschlussmonolog beschäftigt. Auf den Boden der Glühweintasse hatten sich Rosinen und Mandeln verirrt. Kurzentschlossen wühlte Jo mit dem Finger in der Tasse herum und schob sich die aufgeweichten Früchte in den Mund.

„Ich geh mal Nachschub holen“, kündigte er an. Malte und Lene waren in ihre Tatort-Diskussion vertieft. Jo trat zur Weihnachtspyramide und schob der grobschlächtigen Frau hinter der Theke die leeren Tassen hin.

„Wat willste, Süßer? Pfand?“

„Nochmal vier.“

„Mit Schuss?“

„Mit allem.“

„Mit allem?“

„Mit allem. Ist doch bald Weihnachten.“

Die Frau goss dampfende Flüssigkeit in seine Tassen, warf Rosinen und Mandeln hinterher und gab einen Schuss Gorbatschow hinzu. „Achtzig Mark, Süßer!“

Jo kramte nach passenden Münzen, während Fatih seine Ansprache mit dem üblichen Appell beendete. „Also dann volle Kraft voraus, Jungs und Mädels! Auf ein mindestens ebenso geiles Zwovierundzwanzig! Prostata!“

Folgsam hob die Belegschaft die Weihnachtstassen. Als Jo zum Tisch zurückkehrte, fand er Plastikteller mit Nachos, Oliven und Peperoni vor. Dankbar widmete er sich den Knabbereien, während seine Kollegen tranken und hinlänglich bekannte Anekdoten zum Besten gaben. Mittlerweile kannte Jo nicht nur deren Inhalt, sondern konnte zudem auch noch mit beängstigender Präzision voraussagen, wer wann welche Geschichte wiederkäuen würde.

„Lasst uns was Anständiges essen gehn!“, schlug sein Chef nach der „Nackte-Hostessen-auf-der-Viscom“-Anekdote vor. Der Tross verließ die buntblinkende Weihnachtspyramide, spazierte am Rathaus vorbei und überquerte die Berliner Straße. Wie jedes Jahr hatte Fatih in der nahegelegenen Sportsbar einen Tisch bestellt, wo die Weihnachtsfeier bei Burgern und Cocktails zu Ende gehen würde. Jo beteiligte sich nur sporadisch an der vorhersagbaren Konversation und widmete sich stattdessen den Mai-Tai-Varianten auf der Cocktailkarte. Nach der dritten Variante begann er, an den Transparenzeinstellungen seiner Linse herumzuspielen. In der Öffentlichkeit galt es als unhöflich, die Transparenz auf weniger als 50 Prozent zu reduzieren. Andererseits … er hatte dieses Jahr nur noch zwei Arbeitstage. Kurzentschlossen fuhr er die Transparenz auf 20 Prozent herunter und aktivierte Fingersensor und Lifecloud.

„Share your life, share it live!“, säuselte die Computerstimme in Jos implantierten Hörknochen. „Jetzt Kamera aktivieren?“ Jo verneinte die Aufforderung und warf einen kurzen Blick auf seine persönliche Startseite. 18 neue Freundesanfragen, 84 neue iMails. Den Blick starr auf Lene fokussiert, scrollte er mit dem Zeigefinger auf der Tischplatte herum und begann, seine iMails zu überfliegen.

Zeit verging. Jemand knuffte seinen Oberarm. „Hm?“, brummte Jo geistesabwesend.

„Wir gehen! Fatih bezahlt gerade!“ Lene sah ihn vorwurfsvoll von der Seite an. „Du surfst wieder, oder? Du bist unmöglich!“

„Hm.“ Hastig stellte er die klassische Musik leiser, die er zwischenzeitlich hinterlegt hatte, und regelte die Transparenz auf 100 Prozent herauf. „Musste nur kurz was nachschauen.“

Lene kniff die Lippen zusammen. „Alles wie früher“, murmelte sie. Für einen Moment hing ein unbehagliches Schweigen zwischen ihnen.

Fatih ersparte ihm die Antwort. „Okay, Jungs und Mädels! Ein krass geiler Abend! Wir sehen uns am Montag!“ Sein Chef steuerte den Ausgang an, hielt kurz vor der Türe inne und strich wie zufällig seinen Viking-Store-Wollpulli glatt. „Oh, one last thing. Jo, Malte, Stefan … kommt ihr noch auf einen Absacker mit? Ich hab da was für euch. Nur für euch drei.“

Es ging auf zwei Uhr zu, als sie auf dem Boden der Pyramide saßen und Arak mit Eiswasser tranken. Die Luft war geschwängert vom Dampf der Shishas. Fatih versuchte seit einer halben Stunde, seinen drei engsten Mitarbeitern irgendeine großartige Neuigkeit zu verkünden, wurde aber permanent von Landsleuten unterbrochen, die zu ihnen traten, den Chef mit merkwürdigen Handschlägen begrüßten und in einer fremden Sprache anredeten.

„Chabos wissen, wer der Babo ist“, zitierte Malte den Song, mit dem Offenbachs Oberbürgermeister vor vielen Jahren berühmt geworden war. „Fatih hat ziemlich viele Freunde, oder?“

Jo nickte. Der Raum begann, sich sachte zu drehen. Der Glühwein, die Mai-Tais, der Arak … für heute hatte er genug. Jetzt nach Hause. Und vielleicht noch ganz kurz das iEye6-Plus ausprobieren.

„Ich war vor ein paar Monaten bei ihm zu Hause. Wegen den Entwürfen für den Burger-Meister“, fuhr Malte fort. „Er hat zwei Töchter, wusstest du das?“

„Jo“, brummte Jo desinteressiert.

Malte senkte die Stimme und beugte sich zu ihm hinüber. „Weißt du auch, wie die heißen?“

Jo schüttelte den Kopf und bereute es sofort. Die Pyramide drehte sich erneut, diesmal heftiger.

„Die ältere heißt Siri. Die jüngere Apple.“

„Echt?“

„Echt. Krass geil, oder?“

Sie schwiegen eine Weile. Fatih unterhielt sich noch immer wild gestikulierend mit seinen Chabos. „Ich hab da letztens nen geilen Witz gehört“, flüsterte Malte und beugte sich zu den beiden hinüber. „Was hat vier Beine und einen Arm?“

Jo zuckte mit den Achseln. Stefan starrte schweigend auf den Boden.

„Ein Dobermann auf einem Kinderspielplatz!“, sagte Malte und lachte dröhnend.

Jo lachte mit. Stefan scharrte unruhig mit den Füßen und ließ seinen Blick im Raum kreisen. Sie kannten den Informatiker mit dem wild in alle Richtungen sprießenden Vollbart lange genug, um zu wissen, was dieses Verhalten bedeutete. „Ja, Stefan?“, erbarmte Jo sich schließlich.

Der Aufgeforderte räusperte sich. „Ich hab auch einen. Was für ein Geräusch macht es, wenn ein Türke sich das Bein bricht?“

Jo kniff die Augen zusammen. Er hatte mit einem stotternden Exkurs zu irgendeinem Nerd-Thema gerechnet. Die Frage war für Stefans Verhältnisse erstaunlich …

„Kanak!“ beantwortete Stefan die eigene Frage viel zu laut.

Malte machte große Augen. Fatihs Chabos ebenfalls. Er ist betrunken, begriff Jo. Ein betrunkener Informatiker. Ach du Scheiße.

„Ey, du Arsch!“, sagte einer der Chabos. „Was willst du?“

„Der ist von Boris“, fuhr Stefan enthusiastisch fort. „Witzig, oder? Kanak! Ha! Hahaha!“

„Hör mal Stefan“, flüsterte Malte hektisch. „Der ist echt gut, aber hier ist nicht der richtige Ort, um …“

„Warte, ich hab noch einen“, unterbrach Stefan seinen Kollegen. Solange er nüchtern war, stotterte er sich einen ab, aber jetzt redete er wie ein Wasserfall. „Was steht auf einem türkischen Rollstuhl?“

„Stefan …“

„Islam! Der ist gut, oder? Islam! Hahaha!“

Schweigen breitete sich in konzentrischen Kreisen aus. Jos Nackenhaare kräuselten sich. Stefan fuhr unverdrossen fort. „Und den hier, den hab ich mir selbst ausgedacht. Wisst ihr, wie man einen Türken nennt, der eine Agentur leitet?“

„Stefan, ist gut! Ist gut jetzt! Lass uns …“

„Agentürke! Ha! Hahaha!“ Stefan lachte und verschluckte sich. Zwei der grimmig dreinschauenden Chabos waren zwischenzeitlich zu ihm getreten. Der Informatiker hustete und rang nach Luft. Röchelnd wedelte er mit den Armen und stieß seinen Arak um.

„Randale oder was?“, fragte einer der Umstehenden.

„Der macht keine Randale! Der verreckt!“

Auf einmal ging alles sehr schnell. Ein Chabo griff nach Stefan und riss ihn nach oben. Fatih, die Situation erfassend, schlug seinem Angestellten hart auf den Rücken. Stefan griff sich an die Brust und krümmte sich. Ein Hustenfall schüttelte den Informatiker. Ohne Vorwarnung erbrachen sich gesplitterte Eiswürfel und milchig saurer Arak auf den Teppich, die bunten Kissen und den Wollpulli seines Chefs.

Menschen riefen durcheinander. Jo fühlte, wie sich sein Magen umdrehte. „Muss … Toilette“, brachte er noch heraus, begann torkelnd den Wettlauf gegen die aufsteigende Magensäure und gewann, wenn auch knapp. Das erneute Rendezvous mit Nachos, Mandeln, Rosinen, Kartoffelwedges, dem Burger und dem Krautsalat, zersetzt in einem Ozean aus Alkohol, nahm einige Zeit in Anspruch. Erst nachdem er die Klobrille mehr schlecht als recht gesäubert hatte, setzte die Sorge um Stefan ein. Er wankte zurück an den Ort des Dilemmas, wo das beflissene Personal der Pyramide zwischenzeitlich Teppich und Kissen getauscht hatte. Jo erspähte kein einziges bekanntes Gesicht. Seine Sorge wuchs. Mühsam kämpfte er sich bis zur Türe, wo Fatih und der leichenblasse Stefan bereits auf ihn warteten.

„Stefan!“, murmelte Jo. „Alles in Ordnung?“

„A … alles … klar. Ein … Eiswürfel … ha … hat quergesteckt!“, stotterte der Informatiker.

„Der Agentürke hat dir das Leben gerettet“, stellte Jo fest. „Krass geil, oder?“

„Du hast da was hängen“, sagte Fatih und deutete auf Jos Mundwinkel.

„Fuck“, murmelte Jo und wischte mit dem Ärmel in seinem Gesicht herum.

Sein Vorgesetzter war taktvoll genug, das Thema zu wechseln. „Schön, dass ihr wieder unter den Lebenden weilt! Was für eine krass geile Aktion! Ich liebe Offenbach. Ich liebe diese Authentizität. Diese Stadt ist einfach fucking authentisch!“

„Genau wie wir“, sagte Jo matt.

„Genau wie wir!“, echote Fatih. „Fucking authentisch! Seid ihr bereit für das Highlight des Abends? Malte weiß schon Bescheid. Ich hab was richtig Geiles für Euch, Jungs. Was krass Geiles!“

Als Jo nach einem kurzen Fußmarsch an seiner Haustür anlangte, war er beinahe wieder nüchtern. Fatihs Neuigkeit war wirklich geil. Lorem Ipsum durfte mit drei Personen an dem Betatest der Buddys-Erweiterung für die Lifecloud teilnehmen! Seit Monaten war die anstehende Lifecloud-Erweiterung das heißeste Thema in sämtlichen Medien. Jo hatte – illegale – Anfragen zur Weitergabe von Beta-Keys für fünfstellige D-Mark-Beträge gesehen. Für einen einzigen Beta-Key! Nur für das Vorrecht, von Anfang an dabei zu sein zu dürfen! Sein Vorrecht. Er würde die Buddys in Aktion erleben, vor allen anderen. Fatih hatte die Zugangsschlüssel nur an seine besten Mitarbeiter verteilt. An Malte, an Stefan … und an ihn. Er würde bis zum 31. Januar Zeit haben, die Buddys-Erweiterung inklusive iHealth-Integration nach Lust und Laune zu testen. Die Datenlinsen niemals abzulegen und die Lifecloud zu keiner Tages- oder Nachtzeit zu verlassen, erschien Jo nicht als Einschränkung, sondern als Privileg. Krass geil.

Mit seiner Schlüsselkarte öffnete er die Haustür. „Willkommen daheim“, erklang die vertraute Stimme des Hausautomationssystems in seinem Kopf.

„Hallo Dobby“, antwortete Jo. „Türe abschließen, bitte.“

„Türe ist abgeschlossen.“

„Irgendwas Besonderes?“

„Niemand hat geklingelt. Die Rollläden sind unten. Die Temperatur beträgt 18 Grad Celsius. In deinem Schlafzimmer 16.“

„Danke. Bitte mach mir noch einen Espresso. Gute Nacht, Dobby.“ Der Gute-Nacht-Gruß schaltete Dobby auf Standby.

„Espresso wurde gestartet. Gute Nacht, Jo“, antwortete das Hausautomationssystem folgsam. Danach herrschte Schweigen. Während der Kaffeevollautomat sich aufheizte, entpackte Jo das iEye6-Plus. Der silberne Kontaktlinsenbehälter, genau wie in der Vorversion in Form eines angebissenen Rundschildes, war mit einem Aufkleber versehen, der Jos persönliche Daten inklusive seiner Dioptrienzahl zeigte. Jo desinfizierte die Hände, legte die iEye5-Plus-Linsen ab, entnahm eine der iEye6-Plus-Linsen und hielt alte und neue Linse prüfend vors Gesicht. Beide erschienen exakt gleich groß. Nur die Verpackung ist um 30 Prozent größer. Malte hat mich verarscht. Voll banger Erwartung legte Jo die neuen Linsen an, aktivierte per Fingersensor die Lifecloud und reduzierte die Transparenz auf 0 Prozent. Sofort bemerkte er, dass er sich geirrt hatte. Das Gesichtsfeld hatte sich vergrößert. Die blinden Balken an den Rändern waren verschwunden. Die Abdeckung des Gesichtsfeldes war vollkommen. Die perfekte Hardware für den Betatest. Die perfekte Hardware für die Lifecloud.

Mit zitternden Fingern tastete er nach dem Espresso, kippte die schwarze Flüssigkeit herunter und nahm die chipkartengroße Steuereinheit aus der Verpackung. „Bitte PIN eingeben“, forderte die Computerstimme der Lifecloud. Jo markierte mit dem Fingersensor einen Ziffernblock auf dem Küchentisch, worauf die Linse die Nummerntasten in den markierten Bereich projizierte. Als PIN hatte Fatih „2412“ gewählt. „Wegen Weihnachten!“, hatte er gesagt, als sie sich voneinander verabschiedeten. „2412, verstehste? Wegen Weihnachten!“

„Steuereinheit aktiviert“, teilte die computergenerierte Frauenstimme mit. „Willkommen in der Betaphase von Lifecloud-Buddys, Josef.“

„Jo!“, antwortete Jo genervt. Er hasste seinen vollen Namen.

Die Frau ignorierte seine Anmerkung. „Bitte lies dir die nachfolgenden Allgemeinen Geschäftsbedingungen sorgfältig durch. Durch das Generieren eines Buddys wird ein bindender Vertrag mit Viking Enterprises geschlossen, der bis zum Ende der Betaphase, dem 31. Januar 2024, gültig ist. Viking wird in diesen Zeitraum die Kontrolle über Transparenzeinstellung, Kamera und Mikrofon deiner Linse übernehmen. Die mit Hilfe deiner Steuereinheit gesammelten Daten beinhalten Gespräche sowie Lokationen, die du …“

„Jaja, schon klar“, murmelte Jo und bestätigte die Allgemeinen Geschäftsbedingungen durch einen Fingerabdruck. Sofort beendete die Computerstimme ihre Litanei. Im Display seiner Linse erschienen zwei nackte mitteleuropäische Menschen, die sich langsam um die eigene Achse drehten. „Wähle ein Geschlecht für deinen Buddy“, forderte die Frauenstimme ihn auf.

Nun ja. Diese Auswahl fiel ihm nicht schwer. Er positionierte den Zeiger mit dem Fingersensor und versetzte dem weiblichen Buddy einen leichten Klaps auf den Po.

„In der Vollversion wirst du Ethnie, Aussehen und Alter deines Buddys frei konfigurieren können“, fuhr die Stimme fort. „In der Betaphase stehen lediglich vorkonfigurierte Charaktere zur Verfügung. Wähle einen Charakter!“

Ein blondes Mädchen, eine junge Asiatin, eine mitteleuropäische Frau, die ihm irgendwie bekannt vorkam, sowie eine dunkelhäutige Oma drehten sich in seinem Display. Mit trockenem Hals bewegte Jo den Zeiger über die einzelnen Charaktere.

„Marie, sieben Jahre, ist von zu Hause weggelaufen“, teilte die Viking-Dame ihm mit. „Sie sehnt sich nach menschlicher Wärme. Ein richtiger kleiner Goldschatz.“

Das klang nach Sozialdrama. Davon hatte er in der Agentur bereits genug. Hastig bewegte er den Zeiger weiter in Richtung der mandeläugigen Asiatin.

„Ai, zwanzig Jahre, Studentin der Kommunikationswissenschaften“, fuhr die Stimme fort. „Will als Au-pair-Mädchen Deutschland kennenlernen. Sehr tierlieb. Sucht eine Familie mit Kindern.“

Hm. Die Kleine sah nett aus, aber er konnte weder mit Tieren noch mit Kindern dienen. Er bewegte den Zeiger weiter nach rechts.

„Lina, achtundvierzig Jahre, Schauspielerin“, erläuterte die Computerstimme. „Nach der Trennung von Pete Brett sucht sie eine starke Schulter.“

Jetzt erst erkannte er sie. Natürlich. Der Kinowerbespot, in dem Lina Angelie für die Buddy-Funktion geworben hatte. „Glaubt mir, Kinder können nerven!“, hatte die Schauspielerin in die Kamera gesäuselt. „Wie gut, dass es in Kürze eine virtuelle Alternative gibt! Lifecloud-Buddys liefert Ihnen das Kind, das perfekt auf Ihre Wünsche und Bedürfnisse zugeschnitten ist!“ Sie sah immer noch verdammt gut aus in ihrem schwarzen Samtkleid. Innerhalb von Sekundenbruchteilen hatte Jo sich entschieden. Nur der Vollständigkeit halber bewegte er den Zeiger auf die dunkelhäutige Oma am rechten Rand seines Blickfelds.

„Diara, sechsundsiebzig Jahre, Witwe. Lebenslustig und mobil. Geht gerne spazieren. In der Vollversion mit optional wählbarer Religion und zuschaltbarer Demenzfunktion auslieferbar.“

Wer brauchte eine demente Oma? Seine Wahl war längst getroffen. Er klickte auf Linas Bauch.

„Bist du sicher?“, hakte die Computerstimme nach. „Du kannst den Buddy nach seinem Erwachen zwei Stunden lang testen. Die im Anschluss getroffene Entscheidung gilt bis zum Ende der Betaphase.“

„Und wie ich das bin“, flüsterte Jo und klickte ein weiteres Mal. Er hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, wie er Lina Angelie in den nächsten beiden Stunden testen würde.

Für einige Sekunden passierte gar nichts. Dann veränderte sich die Stimme. Der Computer sprach jetzt mit dem verführerischen Timbre von Lina Angelies deutscher Synchronsprecherin.

„Hallo Jo. Du musst mir mein neues Zuhause zeigen“, sagte Lina in seinem Ohr. „Gehe langsam durch alle Räume und dreh dich in alle Himmelsrichtungen. Ich zeichne alle Objekte auf. Wenn ich genug gesehen habe, werde ich erwachen!“

Er beeilte sich, ihrem Wunsch Folge zu leisten. Langsam schritt er durch seine Wohnküche, den kleinen Flur, das Schlafzimmer und das Bad. Er zeigte der Stimme das Treppenhaus, die Waschküche und den Fahrradkeller. Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Lina „Danke, Jo. Die Aufzeichnung ist beendet!“ in sein Ohr säuselte. Prompt blieb er wie erstarrt auf der Stelle stehen, unsicher, was als Nächstes passieren würde.

In der oberen rechten Ecke seines Gesichtsfeldes begann eine kleine grüne Uhr, von „02:00:00“ abwärts die Sekunden herunterzuzählen. Ansonsten passierte … nichts.

„Lina?“, fragte Jo unsicher.

Ein leises Rascheln aus seinem Schlafzimmer. Jemand gähnte. Eine … Frauenstimme, ganz unverkennbar. Plötzlich hatte Jo weiche Knie. Wie ein Schuljunge wartete er in seiner Diele und wusste nicht, was er tun sollte.

„Hallo?“, antwortete jemand aus seinem Schlafzimmer. Jemand, der täuschend echt nach Lina Angelie klang. „Jo? Bist du das?“

„Äh“, stotterte er. „Lina?“

„Du hast mich geweckt, Jo. Wie spät ist es?“

Seine Gedanken rasten. Sie ist nicht echt, ermahnte er sich. Sie ist nur eine Illusion. Er straffte sich und öffnete in banger Erwartung die Türe zu seinem Schlafzimmer.

Lina trug einen Flanell-Pyjama und räkelte sich verschlafen auf seinem Bett. Die Linse hatte die Transparenz des Bildes auf 100 Prozent hochgeregelt … überall um Lina herum. Nur die Schauspielerin selbst war alles andere als transparent. Sie wirkte real … erschreckend real. „Fuck“, murmelte Jo, überwältigt von dem Anblick, der sich ihm bot.

„Diese Funktion ist in der Betaphase nicht verfügbar“, antwortete Lina und gähnte. „Wann kommst du endlich ins Bett? Ich bin müde.“

„Du bist nicht echt. Du bist nur ein Buddy“, stammelte er. Sein bestes Stück schien nicht zu begreifen, dass sie nur eine Illusion war. Die Cordjeans begann bereits, sich auszubeulen. „Wie kannst du behaupten, müde zu sein?“

„Buddys sind auf Realismus programmiert“, erklärte Lina geduldig. „Dazu gehört auch, dass wir schlafen müssen.“

„Schlafen? Wozu denn das?“

„Wir schlafen nicht wirklich, Jo. Wir analysieren die in der Wachphase gesammelten Daten. Wir kommunizieren mit der Lifecloud. Wir lernen und passen uns an. Ich soll dir ja schließlich gefallen, oder etwa nicht?“

Oh, du gefällst mir, Baby. Du gefällst mir sogar sehr. „Schön, schön. Ziemlich heiß hier, oder?“, murmelte er und begann, seine Kleider abzulegen.

Lina runzelte die Stirn. „Was tust du da, Jo?“

„Findest du nicht, dass es furchtbar heiß ist? Und der Schlafanzug ist dir viel zu groß“, plapperte er drauf los. „Zieh ihn aus, Baby. Das Streifenmuster steht dir sowieso nicht.“

„Diese Funktion ist in der Betaphase nicht verfügbar“, wiederholte Lina und zog einen Schmollmund. „Fünfundachtzig.“

„Fünfundachtzig?“

„Fünfundachtzig Prozent aller männlichen Betatester wollen mich in den ersten fünfzehn Minuten des Betatestes nackt sehen. Weißt du, wie frustrierend das ist? Man fühlt sich wie ein Sexobjekt.“

„Wie …“

„Und dreiundsiebzig Prozent aller Betatester nennen mich in den ersten zwei Stunden Baby. Herzlichen Glückwunsch, Jo. Für Männer wie dich wurde ich programmiert. Wir werden uns blendend verstehen.“

Er stand in Unterwäsche vor ihr und fühlte sich wie ein Vollidiot. Im Bad schloss er die Türe hinter sich ab, und als er im Schlafanzug zu ihr zurückkehrte, saß Lina auf der Bettkante und lächelte ihn an. Sie war wunderschön, wenn sie lächelte. Einem plötzlichen Impuls folgend, nahm er ihre Hand …  und griff ins Leere.

„Ich kann deine Vitalfunktionen überwachen oder dir lustige Geschichten von Pete erzählen“, versuchte Lina von seinem Missgeschick abzulenken. „Manche sind auch gar nicht so lustig. Du glaubst gar nicht, wie ich diese Schlampe hasse. Kayleigh Cacao-Brett, pah!“ Sie schnaubte sehr undamenhaft. „Und jetzt lass uns endlich ins Bett gehen. Ich sehe doch, dass du müde bist.“

Folgsam legte er sich auf sein Bett. Lina legte sich neben ihn und lächelte. Alles wirkte absolut real. Er streichelte ihre Wange und griff ein weiteres Mal ins Leere. Leise löschte er das Licht und schloss die Augen. Der implantierte Hörknochen imitierte sogar ihre Atemgeräusche. „Gute Nacht, Jo“, flüsterte Lina. Beinahe glaubte er, ihren Atem auf seiner Wange zu spüren.

Er konnte nicht schlafen. Seine Gedanken rasten. Noch immer hatte er eine Erektion, und noch immer fühlte er sich in ihrer Gegenwart wie ein Teenager bei seinem ersten Rendezvous. „Ich kann das nicht“, sagte er halblaut.

„Was kannst du nicht?“, erkundigte sich Lina.

Er gab keine Antwort. Sie lagen nebeneinander und schwiegen. Irgendwann färbte sich die Uhr in der oberen rechten Ecke seines Gesichtsfeldes rot.

„Jo? Es sind nur noch fünf Minuten“, kommentierte Lina. Ihre Stimme klang angespannt.

Er ließ die Uhr ticken und antwortete nicht.

„Jo?“, fragte Lina erneut.

Er wartete. Wartete so lange, bis die Ziffern „00:00:00“ anzeigten.

„Wählst du mich?“, fragte Lina.

Er schwieg beharrlich.

„Wählst du mich, Jo?“, fragte Lina erneut. Jetzt klang ihre Stimme beinahe flehentlich.

Die Computerstimme der Lifecloud schaltete sich ein. „Wenn du Lina wählst, antworte bitte mit Ja. Du hast dreißig Sekunden Zeit, deine Wahl zu bestätigen.“

„Ich kann das nicht“, wiederholte Jo leise. „Ich kann das nicht.“

Die Computerstimme zählte herunter. „Zehn. Neun. Acht.“ Als die Stimme bei „Null“ angekommen war, sagte Lina traurig „Auf Wiedersehen, Jo.“

Er schaltete das Licht an. Sie war fort. In seinem Kopf hörte er nichts als klare reine Stille. Erleichterung durchflutete ihn … die nur wenige Atemzüge anhielt.

Die Lifecloud-Dame ergriff erneut das Wort. „Wähle ein Geschlecht für deinen Buddy.“

Jo schwieg. Die Dame ebenfalls. Nach einer Minute wiederholte sie ihre Bitte. Nach zwei Minuten wiederholte sie ihre Bitte ein weiteres Mal und erinnerte Jo daran, dass er die Allgemeinen Geschäftsbedingungen bestätigt hatte und ein Rücktritt von der Betaphase leider nicht möglich sei.

„Ich möchte nicht teilnehmen“, antwortete Jo. „Ich habe es mir anders überlegt.“

„Wähle ein Geschlecht für deinen Buddy“, beharrte die Frau auf ihrem Standpunkt.

Die Uhr in seinem Display zeigte halb vier. „Lass mich in Ruhe“, murrte Jo. „Ich will schlafen.“ Die Dame gab keine Antwort. Jo schlief ein.

„Jemand sitzt vor deiner Wohnungstüre“, ertönte unvermittelt Dobbys Stimme in seinem Kopf.

„Hm?“ Aus dem Tiefschlaf gerissen, war Jo für einige Sekunden völlig orientierungslos.

„Jemand sitzt vor deiner Wohnungstüre, Jo. Soll ich öffnen?“

Seine Erinnerungen kehrten zurück. „Oh Mann! Dobby, was redest du für eine Scheiße? Es ist …“ Verschlafen aktivierte er seine Linsen. „Es ist viertel nach vier! Niemand hat geklingelt! Lass mich in Frieden!“

Die Klingel ertönte. „Es hat geklingelt, Jo“, erläuterte Dobby. „Soll ich öffnen?“

Zunächst sah Jo gar nichts. Dann erschien das vertraute Bild des dunklen Treppenhauses. Ein letzter Streifen Mondlicht fiel durch die hohen Fenster herein. „Siehst du, da ist nie…“ Er brach mitten im Satz ab. Vor seiner Türe saß ein Mädchen mit blondem Lockenkopf. Sie war sechs, vielleicht sieben Jahre, hatte die Beine angezogen und hielt ihre Knie fest. „Scheiße“, flüsterte Jo. „Gib mir den Ton, Dobby.“

Er lauschte. Das Mädchen summte eine leise Melodie, während es sich vor- und zurückwiegte.

Jo aktivierte das Mikrofon. „Hallo“, sagte er leise.

Das Mädchen verstummte prompt und erhob sich. „Hallo Jo“, erwiderte sie und nickte in die Kamera.

„Wer bist du?“, flüsterte er.

„Ich heiße Marie“, antwortete das Mädchen. „Darf ich reinkommen?“